Relationale Räume mit Grenzen. Grundbegriffe der Analyse alltagsweltlicher Raumphänomene.
Relationale Räume mit Grenzen. Grundbegriffe der Analyse alltagsweltlicher Raumphänomene.
Das Phänomen der Grenze scheint auf den ersten Blick nicht mit einem relationalen Verständnis von Raum zusammenzupassen. In Ihrem Artikel versuchen Löw und Weidenhaus diese Diskrepanz aufzulösen und entwerfen eine raumsoziologische Konzeptualisierung der Grenze, die sie anhand des Beispiels der europäischen Grenzräume und Migrations- und Fluchtbewegungen im Jahr 2015 verdeutlichen.
Seit dem spatial turn wurde Raum meist relational konzipiert, wobei das Konzept der Grenze vernachlässigt wurde, da es nicht mit dieser relationalen Raumperspektive vereinbar schien. Grenzen spielen jedoch in der empirischen Betrachtung von Räumen immer wieder eine wichtige Rolle. Die Autoren entwerfen daher eine Konzeption der Grenze, die sich in eine relationale Raumtheorie integrieren lässt. Sie verstehen die Grenze selbst als Relation zwischen mindestens zwei Räumen, die sie miteinander in Beziehung setzt. Wenn spezifische Differenzierungen bei der Konstruktion von Räumen relevant sind, können Grenzen diese Differenz verräumlichen und territoriale Raumkonstitutionen schaffen. Die Autoren zeigen dies anhand eines empirischen Beispiels zu Grenzkonstruktionen auf der Balkanroute während der Migrationsbewegungen im Jahr 2015.
Löw und Weidenhaus konzeptualisieren in ihrem Artikel die Grenze im Rahmen einer relationalen soziologischen Raumtheorie. Das Ziel ist es die empirische Bedeutung von Grenzen und Containerräumen zu berücksichtigen, ohne die Erkenntnisse des spatial turn, welche die relationale Raumtheorie prägen, außer Acht zu lassen. Sie unterschieden zunächst zwischen Raummetaphern und Raum (S. 207ff). Raummetaphern lassen sich nutzen um viele soziale Phänomene zu beschreiben, wie eine Familienstruktur oder einen Cyberchat. Für Raummetaphern ist die physische Verortung, das „Wo in der Welt“ (S. 209) nicht wichtig, denn es ändert nichts an der beschriebenen Ordnung. Raum bezieht sich hingegen immer auf physische Lagerelationen an Orten und hat somit eine wichtige materielle Komponente, da sich Räume verändern, sobald sich die Lagerelationen ändern (S. 210). Die Autoren bezeichnen Raum als „relationale Anordnung von sozialen Gütern und Lebewesen an Orten“ (S. 212) Die Raumwahrnehmung hängt ab von der „Synthesleistung“, die Objekte in Relation zueinander setzt und der „Platzierungsleistung (spacing)“, die Objekte im Raum anordnet (S. 212). Das Subjekt konstruiert durch Syntheseleitung, spacing und Ort den Raum, wobei es selbst Teil der relationalen, körperlichen Objekte/Subjekte im Raum ist und durch institutionalisierte, vorstrukturierte gesellschaftliche Konventionen in der Raumproduktion geprägt und geleitet wird (S. 213). Da sich empirisch beobachten lässt, dass es auch Räume wie Nationalstaaten gibt, die Grenzen benötigen, da sie in Bezug auf bestimmte Aspekte, wie z.B. Recht exklusiv sind, bedarf es einer theoretischen Einbettung von Grenzen in das relationale Raumkonzept (S. 214). Löw und Weidenhaus begreifen Grenzen selbst als Relationen von Räumen. Durch Grenzen werden mindesten zwei Räume miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei bedarf es sowohl einer Syntheseleistung als auch einer Differenzleistung. Wenn die Syntheseleistung im Vordergrund steht erscheinen Räume oft als Netzwerke, wohingegen Differenzleistungen Grenzkonstruktionen in den Fokus setzten, wodurch territoriale Räume, wie z.B. Nationalstaaten, geschaffen werden. Je wichtiger die Abgrenzung bzw. die Relation zu anderen Räumen ist, desto wichtiger werden Grenzkonstruktionen (S. 215). Anhand des Beispiels von Grenzkonstruktionen in Europa während der Migrationsbewegungen auf der Balkanroute im Jahr 2015, wird mithilfe einer hermeneutischen Medianalyse abschließend dargestellt, wie sich Grenzen in relationalen Räumen empirisch untersuchen lassen. Die Autoren halten fest, dass nationalstaatliche Grenzen vor allem die Funktion haben Rechte zu territorialisieren und Mobilität zu kontrollieren (S. 219). Im Fall der Grenzen, die für Flüchtlinge auf der Balkanroute geschlossen wurden, zeigen sie, dass Grenzschließungen einerseits Rechte territorialisieren, indem der Zugang zu ihnen (dem Staatsgebiet) blockiert wird. Andererseits wird aber auch Moral territorialisiert, was anhand von Diskursen um Möglichkeiten der menschenwürdigen Versorgung innerhalb der Grenzen und ‚unmoralische‘ Fluchthelfer („Schleuser“, „Schlepper“) außerhalb der Grenzen, deutlich wird (S. 221f). Der Diskurs um Transitzonen, zeigt fernerhin wie Grenzen selbst zu Räumen werden können, in denen kein nationales Recht gilt, obwohl sie unter staatlicher Kontrolle stehen ( S. 223f).
Grenzen sind wichtige Konfigurationen, die empirisch nachweislich eine wichtige Bedeutung für Räume haben. Bislang fehlt jedoch eine theoretische Konzeptualisierung von Grenzen im Rahmen einer relationalen Raumtheorie. Löw und Weidenhaus füllen diese theoretische Lücke, indem sie Grenzen als Relationen von Räumen betrachten, die Räume mittels bestimmter Kriterien miteinander im Beziehung setzten (S. 218). Grenzen sind sehr spezifisch, da sie nur bestimmte Aspekte miteinander in Beziehung setzten, z.B. unterschiedliche Rechtssysteme (S. 215f). Da Grenzen sich immer nur auf bestimmte Aspekte und Personen beziehen, sind sie nie statisch oder ganz geschlossen, sondern fungieren eher als „Membran“ (S. 216). Sie trennen zunächst Räume voneinander und unterbinden Zirkulation. Sie können durch die räumlichen Unterschiede, die sie in Relation setzen, aber auch gezielt Zirkulation generieren z.B. von Waren, Kapital und Menschen. Die Autoren zeigen dies anhand der Flucht- und Migrationsbewegungen auf der Balkanroute, auf der die Zirkulation durch Grenzen blockiert und Rechte und Moral territorialisiert wurden (S. 219ff). Immer dann, wenn Differenzierungen von Räumen im Vordergrund stehen, kann dies zu Grenzkonstruktionen führen, wobei Grenzen soziale Phänomene in territorialer Form verräumlichen (S. 224). Grenzen können auch selbst zu Räumen werden, wenn sie Zirkulation kontrollieren und raumgreifende Trennfunktionen haben, wie im Fall von Transiträumen (S. 217). „Wer räumlich trennen will, konstruiert Grenzen – wer nur verbinden will, der kann darauf verzichten“, resümieren die Autoren (S. 218). Sie kommen zu dem Schluss, dass die Wahrnehmung von Räumen als entgrenzt und offen oder als differenziert und geschlossen durch empirische Untersuchungen weiter erforscht und analysiert werden muss. Dabei zeigen sie, dass eine relationale Raumtheorie und das Konzept der Grenze nicht in Widerspruch miteinander stehen müssen.
Prof. Dr. Martina Löw, Technische Universität Berlin, Fakultät VI: Planen Bauen Umwelt, Institut für Soziologie
ISSN : 2524-3764
ISBN : 978-3-658-15153-9