Ghost in the Genevan borderscape! On the symbolic significance of an ‘invisible’ border

Ghost in the Genevan borderscape! On the symbolic significance of an ‘invisible’ border

Grenzraum
Großraum Genf, Französisch-schweizerischer Grenzraum
Sprache(n)
Englisch
Einleitung

Diese Arbeit erforscht die symbolische Bedeutung von nationalen Grenzen in einem regionalen grenzüberschreitenden Kontext. Die Grenzgestaltung im Großraum Genf liefert ein sinnbildliches Beispiel von grenzüberschreitender Kooperation, in der die Unsichtbarmachung der Grenze in der räumlichen Wahrnehmung eigentlich nur eine Symbolisierungsstrategie mit dem Ziel ist, den obsoleten Charakter der Genze hervorzuheben.

Zusammenfassung

Die symbolische Rolle von nationalen Grenzen für grenzüberschreitende Regionalisierung ist weitgehend unbekannt. Um unser Verständnis der sinnstiftenden Kraft von Grenzen zu erweitern, befasst sich diese Arbeit mit der Frage, was passiert, wenn eine Grenze offenbar nicht Gegenstand einer Symbolisierungsstrategie ist. Das Beispiel vom Großraum Genf erscheint besonders aussagekräftig, da diese genzüberschreitende Zusammenarbeit versucht, einen integrierten urbanen Ballungsraum zu schaffen, der sich durch die ‘Ausradierung’ der französisch-schweizerischen Grenze auszeichnet. Als Abwesenheit von Symboli¬sierung wird die Grenze durch ihre Unsichtbarmachung in der Genfer Grenzgestaltung eher als eine ‘geplante Obsoleszenz’ umcodiert. Allerdings wird das Kooperationsprojekt durch die Disharmonie zwischen dieser Umcodierung durch die Protagonisten der grenzüber¬schrei¬ten-den Kooperation und den gängigen Vorstellungen der Bevölkerung beeinträchtigt. In dem Maße, wie Grenzen starke Symbolkraft haben, die Emotionen und Empathie wecken sollen, steht ihr sinnstiftendes Vermögen im Mittelpunkt von Symbolpolitik, sowohl für die Befürworter von offenen Grenzen und grenzüberschreitender Kooperation als auch für reaktionäre Kräfte, die nationale Interessen und ontologische Ungewissheit vertreten.

Inhalt

Das Hauptargument der vorliegenden Arbeit besagt, dass der Aufbau und die Veränderung von nationalen Grenzen – und darüber hinaus von grenzüberschreitenden Räumen – mehr als nur ‘politische’ Akte sind. Sie sind Teil eines komplexen und umstrittenen Symbolisierungs-prozesses, der auf der Verbindung von politischen Projekten, Alltagserfahrungen und kollektivem Gedächtnis beruht. Um unser Verständnis der sinnstiftenden Fähigkeit von Grenzen innerhalb des Aufbauprozesses von grenzüberschreitenden Regionen zu erweitern, befasst sich diese Arbeit mit der Frage, was passiert, wenn eine Grenze offenbar nicht Gegenstand eines bestimmten Ereignisses, eines öffentlichen Raumes, Denkmals oder einer sonstigen materiellen Ausführung von grenzüberschreitenden Regionalität ist. Die in dieser Arbeit vertretene Hypothese legt dar, dass die Logik der Symbolisierung tatsächlich unausweichlich ist. Anstatt einfach nur das Fehlen eines Grenzsymbolismus in Erwägung zu ziehen (d. h. eine symbolische Leere), plädieren wir hier für eine Strategie der impliziten Symbolisierung, die auf der Inszenierung einer funktionalen Entwertung und Entmateriali-sierung von Grenzen beruht (d. h. eine Symbolik der Leere oder eine ‘abwesende Anwesenheit’, meint, dass eine Bedeutung von dem abhängig ist, was nicht da ist). Um diese Hypothese zu stützen, muss die Motivation der Akteure erklärt werden, die grenz¬über-schreitende Zusammenarbeit betreiben und die Grenze als Symbol der Leere ins Rampenlicht rücken. Einige der Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, sind: Welches sind die Funktionen und Bedeutungen einer Grenze, die sich durch ihre ‘Ausradierung’ auszeichnet? Wie ist diese ‘Unsichtbarkeit’ der Grenze in den grenzüberschreitenden imaginären Bildern und Geschichten angelegt? Und schließlich, in welchem Umfang trägt ein solches symbolisches Umcodieren dazu bei, ein grenzüberschreitendes regionales Projekt und auch die Schaffung eines Zu¬gehörig¬keits¬gefühls voranzubringen, welches die Grenze übersteigt?

Um diese Fragen beantworten zu können, bemüht sich diese Arbeit zunächst um die theoretische Klärung der symbolischen Bedeutung von Grenzen in einem grenz¬über¬schrei-tenden regionalen Zusammenhang. Vor allem konzentriert sich die Diskussion auf die grundlegenden Mechanismen des Symbolisierungsprozesses sowie auf die Bedeutung des geschichtlichen und räumlichen Kontextes. Ersteres stützt sich auf die Semiotik von Peirce, letzteres auf den Begriff der ‘Grenzgestaltung’ (borderscape), der die Multi¬dimen¬sio¬nali¬tät von Grenzen und deren dynamischen Charakter in Zeit und Raum unterstreicht. Anschließend wendet sich die Analyse dem Beispiel des Großraums Genf zu, einer grenzüberschreitenden Kooperationsinitiative, die auf die Entwicklung und Steuerung des grenzüberschreitenden urbanen Ballungsraums ausgerichtet ist, der sich durch die ‘Ausradierung’ der französisch-schweizerischen Grenze kennzeichnet. Die Fallstudienanalyse untersucht in besonderer Weise die Symbolisierung der Grenze im Verhältnis zum grenzüberschreitenden Kooperationsprojekt und die Frage, inwieweit diese Symbolik mit dessen gesellschaftlichem Kontext verbunden ist. Die Umcodierung der Grenze als ‘geplante Obsoleszenz’ wird durch ihre Unsichtbarmachung in dem geplanten Gebiet des Projektes Großraum Genf in den Vordergrund gerückt. Diese Symbolisierung der Grenze durch ihre Abwesenheit ist anscheinend auch gut mit den Narrativen von grenzüberschreitender Zusammenarbeit verknüpft. Allerdings schwächt die Disharmonie zwischen der von den Protagonisten der grenzüberschreitenden Kooperation vertretenen symbolischen Umcodierung zum einen und der Vorstellung der Bevölkerung zum anderen das Projekt Großraum Genf. Einerseits fördert das Fehlen einer expliziten Symbolisierung nicht unbedingt das Zugehörigkeitsgefühl; für viele Einwohner bleibt die Staatsgrenze ein wichtiges Zeichen nationaler Identität. Andererseits liefert die wahr¬ge¬nom¬mene Leere von Symbolik populistischen Bewegungen die Gelegenheit zu einem xenophoben Diskurs, der das Kooperationsprojekt und die Bildung einer grenz¬über-schrei¬tenden territorialen Entität infrage stellt. Zum Schluss wird die Bedeutung einer geisterhaften Grenze untersucht, von der das Projekt Großraum Genf verfolgt wird, und die Frage gestellt, was dieses einzigartige Beispiel über die symbolische Bedeutung von nationalen Grenzen offenbart, besonders wenn diese mystifiziert werden.

Fazit

Im Zusammenhang mit dem Großraum Genf, der sich durch eine relativ unsichtbare Grenze im urbanen Raum auszeichnet, wird die symbolische Rolle des letzteren in dem Projekt des grenz-überschrei¬ten¬den Ballungsraums in zweierlei Hinsicht deutlich. In einem ersten Schritt bestätigt die Vorgehensweise, mit der die nationale Grenze von den Förderern der grenz¬über-schrei¬tenden Kooperation symbolisiert wird, implizit ihre eigene zentrale Rolle in der Bekräftigung eines territorialen Vorhabens und in der Legitimierung einer auf die Zukunft gerichteten Vision. Die Hypothese, gemäß derer die abwesende Präsenz der Grenze in der grenzüberschreitenden räumlichen Einbildung eine Symbolisierungstrategie für deren Obsoleszenz ist, wird bestätigt. In einem zweiten Schritt unterscheidet sich die Bedeutung einer von den für die grenzüberschreitende Kooperation Verantwortlichen als ‘obsolet’ beschriebenen Grenze tatsächlich von der Wahrnehmung und Erfahrung einer mehrheitlichen Bevölkerung. Keineswegs als Hindernis empfunden, bleibt die Staatsgrenze ein eindrucksvoller Ort symbolischer Bestätigung, eine Konstruktion, die Sinn stiftet und Identitäten formt. Eine Räumung der Grenze oder vorzugeben, man könne sie ignorieren, ist sowohl eine Mystifizierung als auch eine verpasste Gelegenheit und kann zur Gefahr werden. Eine Mystifizierung, weil die Abwesenheit der Grenze nur eine scheinbare wäre. Einem Geist ähnlich, unsichtbar, bliebe sie jedoch präsent in der Grenzgestaltung, die das Territorium strukturiert und die Identitäten derjenigen formt, die dort leben. Es wäre auch eine verpasste Gelegenheit, weil die Unsichtbarmachung der Grenze den lokalen und regionalen Akteuren die Gegelgenheit nehmen würde, sie zu mobilisieren, um ihre eigenen territorialen Vorhaben zu fördern und zu fortzuführen. Diese Symbolisierung der Leere überlässt das Feld möglicherweise anderen protestierenden Gruppen für eine Wiederherstellung der Grenze und für deren Neudefinition im Einklang mit eigenen Interessen.

Allgemeiner gesagt, zeigt diese Arbeit, dass die Bedeutung von nationalen Grenzen mit grenzüberschreitender Integration und einer Art kompensatorischen Kooperation (je mehr Interaktion und Konvergenz, desto weniger Bedeutung hat die Grenze) nicht abnimmt. Darüber hinaus bedeutet die physische Unsichtbarmachung von Grenzen keinen Mangel an Symbolik. Im Gegenteil, die Abwesenheit materieller Bedeutungsträger, deren Wirkung gesellschaftlich anerkannt ist, schreibt der symbolischen Umcodierung von Grenzen noch größere Bedeutung zu. Als sinnstiftende Rahmen bleiben Grenzen im Mittelpunkt von grenzüberschreitenden Fragestellungen und Strategien. Vorausgesetzt, sie werden ent-sprechend umkodiert, bieten nationale Grenzen eine große Chance, die Entstehung grenzüberschreitender regionaler Identitäten umzusetzen und einen Angelpunkt zwischen einem grenzüberschreitenden Territorialprojekt und bereits bestehenden nationalen Territorialitäten zu bilden. Doch aufgrund ihrer Rolle als symbolische Ressource bleiben die Aneignung von Grenzen und deren Neuinterpretation auch eine Quelle des Streites und der politischen Anfechtung. Die symbolische Umkodierung von nationalen Grenzen ist daher eine der wichtigsten Themen der europäischen Integration, die zwischen dem Wunsch nach offenen Grenzen und grenzüberschreitender Regionalisierung einerseits und den Tendenzen neuer Grenzziehungen andererseits hin- und hergerissen ist.

 

Kernaussagen

Die Hauptaussage dieser Arbeit behauptet, dass die Veränderung von Grenzen mehr ist als nur ein ‘politischer’ Akt; sie ist auch Teil eines komplexen Symbolisierungsprozesses, nämlich die Repräsentation von Grenzen durch gesellschaftlich bedeutende Symbole. In dem Maße, wie Grenzen mächtige Symbole für die Erweckung von Emotionen und Empathie sind, so steht die Fähigkeit, ihre sinnstiftende Eigenschaft zu mobilisieren, im Mittelpunkt von Symboli¬sierungs-politik, – gleichermaßen für die Befürworter von offenen Grenzen und grenzüberschreitender Kooperation wie für reaktionäre Gruppen, die sich für nationale Interessen und ontologische Unsicherheit stark machen.

Leitung

Luxembourg Institute of Socio-economic Research (LISER)

Verfasser des Eintrags
Beiträge

Christophe Sohn, Luxembourg Institute of Socio-economic Research, Esch-sur-Alzette, Luxembourg

James W. Scott, Karelian Institute, University of Eastern Finland, Joensuu, Finland

Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2021
Erschienen in
Transactions of the Institute of British Geographers