Pandemic Response as Border Politics
Pandemic Response as Border Politics
Grenzkontrollen und -schließungen wurden oft präventiv umgesetzt, um die Verbreitung der COVID-19-Pandemie zu begrenzen, und stellen somit eher eine politische als eine gesundheitliche Maßnahme dar.
Grenzkontrollen und -schließungen sind ein bereits in der Vergangenheit genutztes Mittel, um Epidemien zu bekämpfen. Sie lassen sich auf Bestreben eines einzelnen Staates umsetzen, jedoch wurde ihre Wirksamkeit wissenschaftlich noch nicht überzeugend nachgewiesen. 2020 griffen viele Länder zu diesem Mittel, um die COVID-19-Epidemie zu bekämpfen, oft bereits bevor sie entsprechende politische Maßnahmen im eigenen Land ergriffen hatten. In solchen Fällen lässt sich die Reaktionsschnelligkeit der betreffenden Länder auf frühere politische Maßnahmen zurückführen, die sich auf die Stärkung der äußeren Grenzen stützten, um so das Sicherheits- und Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung zu stärken. Eine solche Tendenz steht jedoch im Widerspruch zur Umsetzung einer wirksamen öffentlichen Gesundheitspolitik.
Bereits in der Vergangenheit wurden Grenzkontrollen stets von Regierungen benutzt, um Risiken für die öffentliche Gesundheit zu externalisieren. Es handelt sich dabei um ein wohlbekanntes Mittel, das von der Bevölkerung akzeptiert wird, für dessen Wirksamkeit aber bislang jede wissenschaftliche Evidenz fehlt. Bei der Analyse der unterschiedlichen Maßnahmen im Rahmen der Gesundheitskrise wird im vorliegenden Artikel zwischen externen und internen Maßnahmen (Abstand, Kontakteinschränkungen) unterschieden und man kommt zu dem Schluss, dass externe Maßnahmen vor allem von Ländern umgesetzt wurden, die ihre Innenpolitik teilweise durch ein wachsendes Bedürfnis nach Autonomie legitimieren.
Im ersten Teil des Artikels wird in einem historischen Rückblick gezeigt, dass in Krisenzeiten sehr oft auf Grenzkontrollen zurückgegriffen wurde. Dieser reflexhafte Rückzug hinter die eigenen Grenzen war im 20. Jahrhundert ganz besonders häufig, so insbesondere während der SARS-Epidemie 2003. Das Zurückgreifen auf das Mittel der Abschottung zeigt sich auch in der Verwendung von Begriffen wie "Quarantäne" oder "hygienisches Sperrgebiet", die beide für Isolierung und Schließung stehen.
Im zweiten Teil konzentriert sich der Artikel auf die Tendenz der Politik, im Zusammenhang mit Pandemien auftretende Risiken durch Grenzkontrollen zu externalisieren. Diese Tendenz beruht auf einem durch Angst genährten, politischen Kalkül und ermöglicht in unsicheren Zeiten eine entschiedene, leicht verständliche Antwort. Um diese Hypothese zu bestätigen, stützt sich der Autor auf das Konzept einer politischen Orientierung der Grenzen (border orientation). Dabei geht es um die Tendenz, die darin besteht, dass ein Staat sich dafür einsetzt, innerhalb und außerhalb seines Staatsgebiets Güter- und Personenbewegungen zu filtern. Je nach Orientierung des jeweiligen Landes ist diese Tendenz bei eher offenen Ländern sehr liberal, während sie bei Ländern, die viel in Infrastrukturen zur Kontrolle oder Schließung von Grenzen investieren, sehr restriktiv ist.
Der dritte Teil des Artikels behandelt empirische Aspekte und stellt heraus, welcher Zusammenhang zwischen Governance-Mechanismen im Hinblick auf Grenzen einerseits und Innen- bzw. Außenpolitik in Krisenzeiten auf der anderen Seite besteht. Die Analyse zeigt insbesondere, dass die Länder, die am meisten Wert auf ihre Autonomie und Souveränität legen, diejenigen waren, die als erste Maßnahmen zur Schließung ihrer Grenzen getroffen haben. Bei diesen Ländern lässt sich auch die stärkste politische Orientierung der Grenzen nachweisen.
Politische Verantwortliche, die ihre Politik durch Souveränität und Recht auf Autonomie legitimieren, waren diejenigen, die während der Krise von 2020 am häufigsten und am schnellsten auf Mittel der Grenzkontrollen und-schließungen zurückgriffen.
Wenn man verstehen will, wie Staaten in einer Pandemiesituation reagieren, so empfiehlt sich eine Betrachtung ihrer Investitionen in Ausbau und Kontrolle der eigenen physischen Grenzen im Laufe der letzten Jahre. Dabei bietet das Konzept der Grenzorientierung ein wertvolles Instrument. Die Covid-19-Pandemie weist auf eine zunehmende Tendenz, ja auf eine Beschleunigung solcher Tendenzen bei besagten Staaten hin.
International waren im Kampf gegen das Coronavirus vor allem unilaterale Politiken zu beobachten. Diese Krise stellt für die Disziplin der Grenzstudien einen Appell zur genaueren Beschäftigung mit wichtigen Governance-Fragen in Bezug auf Grenzen weltweit dar. Dabei empfiehlt es sich, dass ForscherInnen nunmehr internationale Grenzen auch als potenzielle Ressourcen der Innenpolitik begreifen, da Grenzen zunehmend als Argumente zur Umsetzung innenpolitischer Maßnahmen dienen. Die Forschung zum Thema grenzüberschreitende Governance sollte die Beschäftigung mit dieser Tendenz als neue Herausforderung begreifen.
Michael R. Kenwick, Beth A. Simmons
https://doi.org/10.7910/DVN/J0PGNY