Vom processual shift zum complexity shift: Aktuelle analytische Trends in der Grenzforschung

Vom processual shift zum complexity shift: Aktuelle analytische Trends in der Grenzforschung

Sprache(n)
Deutsch
Einleitung

Der Autor zeichnet anhand der theoretisch-methodischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Bereich der Grenz(raum)forschung nach, wie analytische Konzepte weiterentwickelt wurden, um systematisch ein komplexeres und prozessualeres Verständnis von Grenzen zu ermöglichen.

Zusammenfassung

Der Autor arbeitet anhand von theoretisch-konzeptionellen Entwicklungen und Veränderungen im Bereich der Grenzraumforschung während der letzten Jahrzehnte drei analytische Trends („shifts“) heraus: den processual shift, den multiplicity shift und den complexity shift. Diese lösen einander nicht ab, sondern bezeichnen spezifische Orientierungen in der Grenzforschung. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Zuge des sogenannten border turn eine vermehrte Sensibilisierung für Grenzen stattfand, und vor dem Hintergrund des practice turn, der Kultur nicht mehr durch Repräsentationen, sondern durch Praktiken gekennzeichnet sieht, ergeben sich durch die drei shifts neue Möglichkeiten zur Grenzbetrachtung, die prozessuale und performative Elemente der Grenze stärker in den Blick nimmt.

Inhalt

Der Autor benennt die Grenzforschung einleitend als eines der aufstrebenden Forschungsfelder in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten. Begründet unter anderem durch verstärkt aufkommende Fragen zu Globalisierung und Migrationsdynamiken und den damit verknüpften verschiedenen Blickwinkeln und Fragestellungen beschäftigen sich somit mehr und mehr wissenschaftliche Disziplinen mit dem Phänomen der Grenze. Im Zuge dessen entwickeln sich schnell neue Impulse, Begriffe und Analysekategorien, die der Autor im Beitrag systematisch einordnet, in dem er drei analytische Trends herausstellt. Diese shifts, wie der Autor sie bezeichnet, bezeichnen „spezifische Orientierungen in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Grenzen, schließen an generelle sozialanalytische Entwicklungen an und werden in der aktuellen Grenzforschung nebeneinander und miteinander praktiziert“ (p. 107).

Als Erstes beschreibt der Autor den processual shift. Dieser „überwindet die Vorstellung, der fixen und gesetzten Grenzen zugunsten der Auffassung, dass Grenzen die Ergebnisse von sozialen Prozessen sind“ (p. 107). Begründet ist dieser Perspektivwechsel zum einen in einer Reaktion auf zunehmende Globalisierungsdiskurse, zum anderen aber auch durch den spatial turn der 19080er Jahre. Dieser betrachtet Raum als soziale Produktion; diese Perspektive wird somit vermehrt auch auf Grenzen angewendet. Der theoretische Rahmen, der mit dieser Prozesshaftigkeit einhergeht, beinhaltet nach dem Autor die Grundannahmen, dass Grenzen gemacht sind, fortwährend (re)produziert werden, veränderlich sind und Ordnungen (re)produzieren.

Davon ausgehend erweitert sich die Perspektive auf Grenzen im Zuge des multiplicity shift. Während die Prozesshaftigkeit von Grenzen wichtiger Ausgangspunkt dieses Ansatzes bleibt, so werden Grenz(de)stabilisierungen fortan als Prozesse betrachtet, die von einer Vielzahl an Akteuren angestoßen und vollzogen werden. Diese Einbeziehung verschiedenster Identitäten ermöglicht eine machtkritische Diskussion von Grenz(de)stabilisierungsprozessen. Für den multiplicity shift sind daher folgende Analyseperspektiven charakteristisch: Akteurspluralität, Diffundiertheit (Grenzen als räumlich verstreut), Soziomaterialitäten (vor allem die Frage nach Überwachung und Kontrolle von Körpern im Kontext von Grenz(de)stabilisierungsprozessen) und Mutlivalenz (Wechselverhältnis zwischen Körpern und Grenz(de)stabilisierungsprozessen).  

Schließlich entwickelte sich auch dieser Ansatz weiter. Im Zuge des complexity shifts werden die Ansätze aus dem processual shift  und dem multiplicity shift dahingehend erweitert, dass

Grenz(de)stabilisierungen als „Effekte von dynamischen Formationen verstanden“ (p. 113) werden. All diese Elemente werden als „von bestimmten Beziehungen zusammengehalten vorausgesetzt und in ihrer situativen Aufeinanderbezogenheit betrachtet“ (p. 113).

Die Skizzierung und Einordnung dieser wissenschaftlichen Entwicklungen verdeutlichen somit, wie Begriffe, Konzepte und Analysekategorien in den Grenzforschungen kontinuierlich und ausdifferenziert wurden, um die Komplexität und Dynamik von Grenz(de)stabilisierungen besser zu erfassen.

Fazit

In seiner kritischen Schlussbetrachtung bemerkt der Autor, dass sich theoretische Ansätze und Überlegungen im Bereich der Grenzforschung in Einklang mit gesamtgesellschaftlichen Fragen und vor dem Hintergrund konzeptueller Umbrüche in den Sozial- und Geisteswissenschaften weiterentwickeln und ausdifferenzieren. Die drei herausgestellten shifts bewegten sich dabei von einem Verständnis von Grenzen als fixen Einheiten hin zu einem Fokus auf Grenzen als sozialen Produktionen und als Prozess. Im Anschluss erweitert sich der Ansatz, indem die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit der mit Grenzen und Grenz(de)stabilisierungen verknüpften Aspekte in den Blick genommen werden. Schließlich dann wurden sie unter Berücksichtigung dieser vorangegangenen Überlegungen als Effekte von dynamischen Formationen verstanden. Der Autor merkt jedoch auch kritisch an, dass in den Ansätzen hervorgebrachte Begriffe wie z.B. Grenzpraktiken noch nicht ausreichend definiert sind. Dies erschwere eine Untersuchung dessen, was Praktiken der Grenze zu ebensolchen mache, bzw. worin die Besonderheit dieser Praktiken bestehe. Während der Autor einen gemeinsamen sozialtheoretischen Hintergrund für alle beteiligten Disziplinen für weder durchsetzbar noch wünschenswert hält, verweist er dennoch auf die stärkere Einbindung von Praxistheorien für die Auseinandersetzung mit Grenz(de)stabilisierung – ob sich diese Auseinandersetzung nun auf Grenzen als soziale Produktionen, als multiple Prozesse, oder als komplexe Formationen konzentriere. Indem der Autor diese Verschränkung von Praxistheorien und den Überlegungen zu Gren(de)stabiliserungen skizziert, zeigt er auf, dass die Einbindung ersterer in die Grenzforschung theoretische Debatten zwischen Wissenschaftler*innen unterschiedlichster Disziplinen im Bereich der Grenzforschung intensivieren kann.

Kernaussagen

Theoretisch-konzeptionelle Analysekategorien im Bereich der Grenzforschung entwickeln sich stetig weiter. Sie können vor dem Hintergrund bestimmter Umbrüche in den Sozial- und Geisteswissenschaften entsprechend kategorisiert werden. Diese Weiterentwicklungen von Analysekategorien, Theorien und Konzepten tragen zu einer differenzierteren Erfassung und Untersuchung von Grenzen und Grenz(de)stabilisierungen bei und ermöglichen die Einbeziehung verschiedener Elemente, Akteure und Prozesse. Dennoch ist eine stärkere Verschränkung dieser Überlegungen mit Praxistheorien wünschenswert, da dies eine stärkere theoretische Rückkopplung sowie eine intensivere Debatte unter Grenzforschenden herbeiführen könnte.

Leitung

Christian Wille

Verfasser des Eintrags
Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2021