Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux

Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux

Grenzraum
Großregion, Saarland, Rheinland-Pfalz, Luxemburg, Lothringen, Wallonien, Nord-Pas-de-Calais
Sprache(n)
Deutsch
Einleitung

Das Buch zeigt am Beispiel der Arbeitnehmermobilität in der Großregion wie ‚Räume der Grenze‘ entstehen. Dafür werden Grenzgänger als transnationale Lebensform empirisch untersucht und die Entwicklung der Pendelbewegungen historisch aufgearbeitet.

Zusammenfassung

Im Zentrum des Buchs steht die Frage, wie Räume in oder als grenzüberschreitende Bezüge beschrieben und empirisch untersucht werden können. Dafür wendet sich der Autor dem Grenzgängerwesen in der Großregion SaarLorLux zu, das aufgrund seiner zirkulären Mobilitätsstruktur und multilokalen Verankerung exemplarisch für grenzüberschreitende Lebenswirklichkeiten steht. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass Räume nicht vorgängig existent sind, sondern durch grenzüberschreitende Aktivitäten subjektiv bedeutungsvolle räumliche Verhältnisse entstehen. Der Raumbegriff dient so als Beschreibungsmodus für die – durch die Praktiken der Grenzgänger hervorgebrachten – sinnstiftenden räumlichen Verhältnisse, die über soziokulturelle Teilfragestellungen operationalisiert und empirisch untersucht werden.

Inhalt

In Kapitel 1 wird eine Annäherung an das Grenzgängerwesen vorgenommen, die den aktuellen Forschungsstand und das quantitative Aufkommen der grenzüberschreitenden Arbeitnehmer in Europa und der Großregion SaarLorLux berücksichtigt.

In Kapitel 2 wird ein theoretisch-konzeptioneller Rahmen zur Strukturierung der weiteren Überlegungen entwickelt. Er orientiert sich an zwei konvergenten Theorieentwicklungen, bei denen es sich einerseits um die Aufwertung des Subjekts im Rahmen des cultural turn handelt, die in Teilgebieten der Geographie zu einer Abkehr von substantialistischen Raumvorstellungen führte zugunsten der symbolischen und sinnhaften Dimensionen geographischer Wirklichkeiten. Andererseits wird die (Wieder-)Entdeckung der Räumlichkeit des Sozialen in den Sozial- und Kulturwissenschaften berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene raum- und handlungstheoretische Ansätze diskutiert und zu einer interdisziplinären Analytik handlungsbasierter Raumkonstruktionen zusammengeführt.

Aufbauend auf dieser Heuristik wird in Kapitel 3 ein Phasenmodell zur Durchführung der empirischen Befragungen entwickelt. Es umfasst die Exploration des Untersuchungsfelds zur Vorbereitung einer standardisierten Befragung und ihrer Profundierung sowie unterschiedliche quantitative und qualitative Erhebungstechniken. Dazu zählen neben Literatur- und Dokumentenanalysen explorative Interviews, eine standardisierte schriftliche Befragung und episodische Interviews. Danach werden die verschiedenen Teilstichproben vorgestellt, wobei besonders die Probanden der standardisierten Befragung bzw. die aus ihnen gebildeten Stromrichtungen näher erläutert werden.

In Kapitel 4 wird der politische Kooperationsraum Großregion SaarLorLux in einer doppelten Perspektive vorgestellt. Er wird zunächst anhand zentraler Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsindikatoren dargestellt für ein besseres Verständnis der grenzüberschreitenden Arbeitsmarktbeziehungen. Anschließend wird die Entwicklung der politisch-institutionellen Zusammenarbeit in diesem Raum ab den 1960er Jahren nachgezeichnet, wobei Kooperationen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen und die Rolle europäischer Förderinstrumente Berücksichtigung finden. Schließlich wird das Grenzgängerwesen in der Großregion SaarLorLux in diachroner Perspektive aufgearbeitet, wobei ab 1900 vier zentrale Entwicklungsphasen unterschieden werden.

In Kapitel 5 werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen vorgestellt und interpretiert. Dafür werden die vorliegenden quantitativen und qualitativen Daten trianguliert und ihre Darstellung entlang verschiedener Teilfragestellungen strukturiert. Dies betrifft die Bereiche Arbeitsbedingungen und Arbeitszufriedenheit, grenzüberschreitende Lebens- und Erwerbsprojekte, Fremderleben und berufliche Sozialisation, Sprachen und Kommunikation in der betrieblichen Praxis, Wahrnehmungen des Grenzgängerwesens und Gleichbehandlung, räumliche Identitäten und Stereotype sowie soziale Beziehungen und Vergemeinschaftungspraktiken.

In Kapitel 6 schließlich werden die empirischen Ergebnisse zusammengefasst und mit der entwickelten Analytik in Zusammenhang gebracht. Hieran anknüpfend werden zentrale Merkmale grenzüberschreitender Arbeitnehmermobilität in der Großregion SaarLorLux abgeleitet und allgemeine Überlegungen zur Analyse und zu den Merkmalen grenzüberschreitender Raumkonstruktionen vorgenommen. Abschließend werden die applizierte Heuristik kritisch reflektiert und Perspektiven zur Weiterentwicklung der vorgestellten Analytik skizziert.

Fazit

Lebens- und Erwerbsprojekte von Grenzgängern
Betrachtet wurden Verläufe von Erwerbsbiographien, Strategien der Stellenfindung, Motivstrukturen sowie Aspekte der Lebensqualität und Zukunftspläne von Grenzgängern. Herausgearbeitet wurden traditionell-kontinuierliche Erwerbsverläufe, die überwiegend ältere Grenzgänger des industriellen Sektors kennzeichnen, und flexibel-diskontinuierliche Erwerbsbiographien, die tendenziell jüngere Pendler der Dienstleistungsbranchen aufweisen. Nahezu die Hälfte der Grenzgänger hat die aktuelle Arbeitsstelle über informelle Informationskanäle gefunden; die Motive für grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität beruhen weitgehend auf regionalen Unterschieden in den Einkommensmöglichkeiten und des Beschäftigungsangebots. Die Annäherung an Aspekte der Lebensqualität erfolgte über die Vor- und Nachteile des ‚Lebens als Grenzgänger’, hinsichtlich dessen neben den langen Anfahrtswegen die Aussicht auf eine auskömmliche Rente, das multikulturelle Arbeitsumfeld und die Möglichkeit eine Fremdsprache zu lernen, genannt wurden. Ferner wurden die vergleichsweise gute finanzielle Situation sowie die knappen Zeitressourcen und der Stress durch lange Anfahrtswege erwähnt. Dennoch kristallisierte sich das ‚Leben als Grenzgänger’ als ein dauerhaftes Lebens- und Erwerbsprojekt heraus.

Fremderleben und berufliche Sozialisation
Zur Betrachtung von Interaktionen am Arbeitsplatz wurden die Pluralität der Kollegenkreise (hinsichtlich der Nationalität), subjektive Differenzkonstruktionen und der Umgang mit diesen untersucht. Deutlich wurde, dass die Unternehmen drei bis vier der berücksichtigten Nationalitäten beschäftigen und Grenzgänger überwiegend mit ansässigen Kollegen und Kollegen aus der Wohnregion zusammenarbeiten. Damit verbunden ist der Umstand, dass informelle Momente in der betrieblichen Praxis weitgehend mit Personen aus dem Wohnland verbracht werden. Dafür maßgeblich sind eine gemeinsame Verständigungssprache und ein geteiltes Alltagswissen. Allerdings wird die Pluralität am Arbeitsplatz – im Hinblick auf unterschiedliche Mentalitäten und Fremdsprachen – als interessant und bereichernd erlebt. Unterschiede zwischen Kollegen verschiedener Nationalitäten wurden hinsichtlich der beruflichen Ausbildungen, des Fachwissens oder der Einstellung zur Arbeit wahrgenommen. Nahezu die Hälfte der Grenzgänger berichtete über Probleme zwischen Kollegen verschiedener Nationalitäten, für die überwiegend die unterschiedlichen Sprachen und verschiedenen Arbeitsweisen ausschlaggebend seien.

Sprachen und Kommunikation in der betrieblichen Praxis
Angesichts der Sprachensituation in der Großregion wurde eine begrenzte Sprachenvielfalt auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt festgestellt. Eine Sonderrolle kommt dem mehrsprachigen Großherzogtum zu, das grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität begünstigt, da sich Grenzgänger hier weitgehend in ihrer Muttersprache verständigen können. Gleichwohl wurden Sprachen am häufigsten als Grund für Probleme zwischen Kollegen unterschiedlicher Nationalitäten angeführt. Festgestellt wurde in diesem Zusammenhang, dass verschiedene Sprachkontaktsituationen am Arbeitsplatz auszumachen sind, wie etwa Grenzgänger, die fast ausschließlich in einer Fremdsprache oder in ihrer Muttersprache kommunizieren, und solchen, die weitgehend Situationen der Lingua-franca-Kommunikation bewältigen. Im Hinblick auf die Fremdsprachenkenntnisse wiesen die ins Saarland einpendelnden Grenzgänger aus Lothringen und die in Luxemburg beschäftigten Befragten aus Rheinland-Pfalz besonders ausgeprägte Kompetenzen auf, wobei hier dialektale Ähnlichkeiten eine Rolle spielen. Hinsichtlich des Fremdsprachenerwerbs zeigt sich die Dominanz des informellen Fremdsprachenerwerbs am Arbeitsplatz. Ferner wurde deutlich, dass fremdsprachliche Kommunikation eine höhere Konzentration erfordert bzw. ermüdend wirken kann, die Erwerbstätigkeit aber auch interessanter gestaltet. Die Wahrnehmung von Kommunikationsweisen spiegelte einen indirekt-impliziten Kommunikationsstil wider, der vor allem Franzosen zugeschrieben wird, und einen direkt-expliziten Kommunikationsstil, der besonders deutsche Sprecher charakterisiere.

Wahrnehmungen des Grenzgängerwesens und Gleichbehandlung
Insgesamt ist eine positive bis ambivalente Haltung gegenüber Grenzgängern in der Großregion zu beobachten, obgleich sie zum Teil als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen werden. So wurde die sich abzeichnende Ambivalenz des Status der Grenzgänger als „notwendiges Übel“ bezeichnet, gleichwohl sich im regionalen Vergleich Unterschiede zeigten. In einer ergänzenden Befragung der Luxemburger Wohnbevölkerung wurde die Wahrnehmung der Grenzgänger als Konkurrenten bestätigt, jedoch bleibt die vermeintliche Arbeitsplatzkonkurrenz weniger einem Verdrängungswettbewerb denn vielmehr den nachgefragten Qualifikationen geschuldet. Diese weisen Luxemburger oftmals nur bedingt auf und streben tendenziell gut bezahlte und sichere Arbeitsstellen im (halb-)öffentlichen Sektor an, die ihnen ‚Schutz’ vor der Konkurrenz ausländischer Arbeitskräfte bieten. Vor diesem Hintergrund wurde eine positive Wahrnehmung der Grenzgänger in Luxemburg vor allem hinsichtlich sozio-ökonomischer Aspekte deutlich; negative bzw. ablehnende Haltungen gegenüber den Pendlern wurden eher auf sozio-kulturellem Gebiet artikuliert. Momente der Ungleichbehandlung in der betrieblichen Praxis zeigten sich besonders im Vergleich zu den ansässigen Erwerbstätigen. Ungleichbehandlungen zwischen verschiedenen Grenzgängergruppen nach Nationalitäten scheinen weniger verbreitet zu sein.

Räumliche Identitäten und Stereotype
Zunächst wurde ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsempfinden der Grenzgänger zur lokalen, regionalen und nationalen Ebene ihres ‚Wohnterritoriums’ deutlich; hinsichtlich der übergeordneten Maßstabsebene des Weltbürgers und Europäers bestanden Unterschiede zwischen den in die jeweilige Wohnregion zugezogenen Grenzgängern und den ‚schon immer‘ dort ansässigen Pendlern. Die Zugezogenen empfanden sich stärker als Europäer bzw. als Kosmopoliten, während die Sesshaften sich stärker den subeuropäischen Ebenen zugehörig fühlten. Die geringste Identifikationskraft wiesen die Ebene der Großregion und die jeweilige Arbeitsregion auf. Dies ist vermutlich auf den weitgehend politischen Charakter der Großregion SaarLorLux zurückzuführen, wodurch sie für viele Grenzgänger ein diffuses und abstraktes Gebilde bleibt. Mit Blick auf die Arbeitsregion waren überwiegend raumfragmentierende Praktiken bei Grenzgängern zu beobachten, die auf vorder- bzw. rückseitige Regionalisierungsprozesse verweisen. Ferner wurde deutlich, dass Grenzgänger, die Alltagspraktiken außerhalb des betrieblichen Kontextes in der Arbeitsregion verrichten und hier soziale Kontakte pflegen, tendenziell eine stärkere Zugehörigkeit zur Arbeitsregion und zur Großregion aufweisen als solche, auf die diese Merkmale nicht zutreffen.

Soziale Beziehungen und Vergemeinschaftungspraktiken
Zunächst zeichnete sich ab, dass grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität die sozialen Kontakte von Grenzgängern kaum einschränkt. Vielmehr gewinnen Pendler durch die Tätigkeit als Grenzgänger neue Freunde in der Arbeits- und Wohnregion und verlieren eher keine Freunde in der Wohnregion. Dabei waren regionale Unterschiede auszumachen, die darauf hindeuten, dass die Länge der Fahrt an den Arbeitslatz und eine gemeinsame Sprache bzw. ein gemeinsamer Dialekt für die Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen eine Rolle spielen. Bei den neu gewonnenen Freunden handelte es sich zumeist um Grenzgänger aus der eigenen Wohnregion, was auf inner- und außerbetriebliche Vergemeinschaftungspraktiken zurückzuführen ist, zu denen betriebliche Parallelgesellschaften, Wohngemeinschaften, Fahrgemeinschaften oder betriebliche Fahrdienste zählen. Ferner begünstigen offenbar formelle und informelle Organisationsformen die Vergemeinschaftung und damit die Entwicklung einer kollektiven Identität der Grenzgänger. Hierfür wurden formelle gewerkschaftliche sowie auf Selbsthilfe basierende Organisationsformen und informelle Vergemeinschaftungspraktiken exemplarisch beleuchtet.

Kernaussagen

Die herausgearbeiteten Merkmale des Grenzgängertums verweisen auf eine gewisse Pluralität der Gruppe der Grenzgänger; ferner geht die festgestellte Persistenz des Pendelns auf regionale Entwicklungsgefälle zurück, die zu den elementaren Bedingungen grenzüberschreitender Arbeitnehmermobilität zählen. Die herausgearbeitete Informalität und das Konfliktpotential sind vermutlich an ein kritisches Volumen des Grenzgängeraufkommens gekoppelt, welches erst Netzwerkeffekte und das Entstehen sozialer Infrastrukturen sowie konfliktueller Beziehungen hervorruft. Ebenso sei anzunehmen, dass Raumkonstruktionen in grenzüberschreitenden Untersuchungszusammenhängen von Kontingenz und Ambivalenz geprägt sind, gleichwohl hier die praktizierten Sprachen, die durchlaufenen Bildungssysteme dies- und jenseitig der nationalen Grenze sowie die gemeinsame Geschichte eine Rolle spielen. Diese Faktoren beeinflussen vermutlich ebenso die Integrationspraktiken von Grenzgängern.

Leitung

Christian Wille

Verfasser des Eintrags
Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2019
Verlag
Peter Lang
Identifikationsnummer

978-3631-63634-3