Phantomgrenzen im Kontext grenzüberschreitender Wohnmigration: das Beispiel des deutsch-luxemburgischen Grenzraums
Phantomgrenzen im Kontext grenzüberschreitender Wohnmigration: das Beispiel des deutsch-luxemburgischen Grenzraums
Der Zusammenhang von Fortbestand und gelichzeitiger Auflösung der Grenze wird anhand der grenzüberschreitenden Wohnmigration im deutsch-luxemburgischen Grenzraum beleuchtet.
In den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Personen aus Luxemburg, die ihren Wohnsitz in den deutschen Grenzraum verlegen beträchtlich angestiegen. Basierend auf vier unterschiedlichen Studien, die sich mit dieser Entwicklung befassen, zeigt der Beitrag dass die grenzüberschreitenden Praktiken zwar zu einer Relativierung der nationalen Grenzen beigetragen habe, diese aber anhand neuer Grenzziehungen, wie bspw. räumlicher Differenzierungen und sozialer Grenzziehungen, fortbestehen.
Der Beitrag beginnt mit einer Diskussion über die De-Substantialisierung und den gleichzeitigen Fortbestand von Grenze. Die Autoren halten fest, dass der Begriff des Phantoms angebracht sei, um diesen Umstand zu beschreiben. Anhand der grenzüberschreitenden Wohnmigration im deutsch-luxemburgischen Grenzraum untersucht der Beitrag den Zusammenhang zwischen territorialen Grenzen und sozialen Grenzziehungen. Nach einer Einführung zu Forschungsperspektiven innerhalb der Border Studies in Bezug auf die Prozesse der (Ent-)Differenzierung im Kontext von Wohnmigration erläutern BOESEN et al. die Denkfigur der Phantomgrenze, da diese sich als hilfreich erweist, die genannten Prozesse zu analysieren. Es folgt eine detaillierte Darstellung des Untersuchungsraums (Luxemburg, benachbarte Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz in Deutschland), bei der sowohl die Alltagsmobilität (grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität) als auch die Wohnmigration im Detail dargestellt werden. In den vergangen 15 Jahren ist die Anzahl der Luxemburger, die ihren Wohnort in den benachbarten deutschen Grenzraum verlagern, stetig angestiegen. Die Gründe dafür sind in den Asymmetrien im Hinblick auf die Wohnkosten zu suchen.
In dem Beitrag werden die Daten aus vier empirischen Studien, die sich mit dem saarländischen und rheinland-pfälzischen Grenzraum befasst haben, analysiert. Bei den vier Studien handelt es sich um:
- • eine kartographische Dokumentation und eine geostatische Untersuchung der räumlichen Verteilung von luxemburgischen Staatsbürgern in der Gemeinde Perl im Saarland (2011), • eine Analyse eines qualitativen Interviews über die Gründe für die Migration und die Wohnortwahl mit einem luxemburgischen Wohnmigranten, der in Merzig (Saarland) lebt (2013), • eine quantitative Studie über Meinungsbilder in Bezug auf Wohnmigranten, die in rheinland-pfälzischen Landkreisen durchgeführt wurde, • und ethnographische Fallstudien im rheinland-pfälzischen Grenzraum zu Luxemburg.
Die angewandten Methoden unterscheiden sich, die Ergebnisse der Studien stimmen dennoch grundlegend darin ein, das die Wohnmigration von Luxemburgern in den deutschen Grenzraum sowohl auf regionaler als auch auf lokaler Ebene zu sozialen Grenzziehungen und räumlichen Differenzierungen führt. So schreiben BOESEN et al. mit Blick auf die verkehrstechnisch gut an Luxemburg angebundene Gemeinde Perl im Saarland, dass hier in den vergangen Jahren stetig neue Neubaugebiete entstanden sind, um der Nachfrage der Wohnmigranten aus Luxemburg gerecht zu werden. Die Anzahl der luxemburgischen Bewohner hat sich in der Gemeinde innerhalb von vier Jahren (2006-2010) fast verdreifacht. Zur Abfederung der Preisanstiege gibt es seit 2009 eine Vergaberichtlinie, in der festgesetzt wurde, dass Autochthone einen geringeren Preis für einen Quadratmeter Baugrund zahlen müssen als Allochthone. Die Studien deuten auf eine starke räumliche Konzentration der Luxemburger in einigen Ortsteilen und Straßen hin. Dies kann als Ausdruck eines „Unter-Luxemburgern-Bleiben-Wollens“ interpretiert werden. Allerdings werden ebenfalls bereits gegenläufige Tendenzen sichtbar, wie anhand des qualitativen Interviews mit einem luxemburgischen Wohnmigranten, der in Merzig lebt, deutlich wird. Dieser hat Luxemburg aufgrund von Entfremdungserfahrungen verlassen, hat sich jedoch bewusst dazu entschieden, sich nicht in direkter Grenznähe anzusiedeln, da er nicht an der luxemburgischen Enklavenbildung teilhaben möchte. Er kritisiert diese im Interview und nimmt bewusst einen weiteren Anfahrtsweg zu seiner Arbeitsstelle in Luxemburg in Kauf. Ähnliche Punkte werden auch für den rheinland-pfälzischen Grenzraum deutend gemacht. Daneben werden die Meinungsbilder von Autochthonen und Zugezogenen aus deutschen Bundesländern 2012/2013 dargestellt. Die Grenze erscheint darin „diffus in den Wahrnehmungen von sozialer und kultureller Distanz und Nähe“. Dabei erlaubt ihre Phantomhaftigkeit es, auf „individuell differenzierte und kreative Art und Weise mit Kategorien wie ‚der typische Luxemburger‘ oder ‚die Freudenburger‘ zu verfahren und diese zur Grundlage von Selbstwahrnehmung und Identifikation zu machen.“ (S. 124)
Unterschiedliche empirische Befunde wurden herangezogen um den Zusammenhang zwischen durchlässig gewordenen territorialen Grenzen und sozial hergestellten Grenzen zu analysieren. Dabei konnte festgestellt werden, dass sich neue räumliche Differenzierungen und soziale Grenzziehungen in unterschiedlicher Art und Weise materialisieren und manifestieren. Als Beispiele können Neubaugebiete vs. Ortskerne, verkehrsgünstige vs. Verkehrsungünstige Lage, Allochthone vs. Autochthone, Luxemburger vs. Nicht-Luxemburger genannt werden.
Die Denkfigur der Phantomgrenze eignet sich um den Zusammenhang von Auflösung und gleichzeitigem Fortbestand der Grenze herauszuarbeiten. Allerdings erfordert die Denkfigur einen kritischen Umgang, da der Ausgangspunkt der Überlegungen stets auf eine territoriale Grenze Bezug nimmt besteht die Gefahr, diese unhinterfragt als Setzungen aufzufassen, ihre soziale Gemachtheit und historische Kontingenz also aus dem Blick zu verlieren. Zudem muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die mit territorialen Grenzen verbunden Codierung nur ein Angebot für soziale Kategorisierungen neben anderen darstellt und dass die Ordnungskategorie nicht statisch zu denken sind, sondern spezifischen Prozessen der Umdeutung und Rekombination unterliegen.
Elisabeth Boesen, Birte Nienaber, Ursula Roos, Gregor Schnuer und Christian Wille,
ISSN: 0943-7142