Online-Rundtischgespräch – Grenzwirklichkeiten in der Großregion in Zeiten der Pandemie

Noch vor wenigen Wochen waren offene Grenzen eine Selbstverständlichkeit in der Großregion: Berufspendler*innen, Studierende, Supermarktkunden – alle konnte die Grenze ohne Kontrollen passieren. Als Sicherheitsmaßnahmen im Zuge der COVID-19-Pandemie wurden Mitte März Grenzkontrollen eingeführt und viele Grenzübergänge geschlossen. Die grenzüberschreitenden Lebenswirklichkeiten der Bürger*innen der Großregion wurden zerschnitten. Auf unterschiedlichen Ebenen sorgten die Grenzschließungen für Kritik und Missverständnisse, die vor allem die deutsch-französische Zusammenarbeit auf eine Probe stellte.

Diese und weitere Ereignisse im Zuge der COVID-19-Pandemie gaben Anlass für das Online-Rundtischgespräches am 28. Mai 2020, das mit Unterstützung der Universität der Großregion im Rahmen der Reihe Grenzwirklichkeiten: Herausforderungen und Perspektiven in ungewissen Zeiten stattfand. Gemeinsam mit den knapp 100 Teilnehmer*innen aus Zivilgesellschaft, grenzüberschreitender Kooperation, Verwaltung und Studierendenschaft diskutierten die Expert*innen aktuelle Alltagsrealitäten, Bürgerinitiativen, Dynamiken der Zusammenarbeit und die Zukunft der grenzüberschreitenden Kooperation. Zu den eingeladenen Expert*innen zählten:

  • Patrick Barthel, Vize-Präsident der Universität Lothringen und Leiter des deutsch-französischen Zentrums Lothringens (CFALor)
  • Martina Kneip, Mitinitiatorin der Initiative „Schengen is alive“ und Direktorin des Centre Européen Schengen
  • Philipp Krämer, Vertretungsprofessur für Sprachgebrauch und Sprachvergleich (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, Viadrina-Center B/ORDERS IN MOTION)
  • Florian Weber, Jun.-Professor für Europastudien, Schwerpunkt Westeuropa und Grenzräume (Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies)
  • Astrid M. Fellner, Professorin für Nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft (Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies)
  • Christian Wille, Grenzraumforscher und Leiter des Netzweks UniGR-Center for Border Studies (Universität Luxemburg)


Initiativen in Zeiten der Pandemie: gemeinsam Zeichen setzen

Die Initiative „Schengen is alive“, die von Martina Kneip mitinitiiert wurde, entstand bereits vor der Corona-Pandemie und verweist auf die offenen EU-Binnengrenzen als eine europäische und schützenswerte Errungenschaft. Anliegen der Initiative ist es, sich für die Freizügigkeit von Personen, Waren und Ideen im Schengen-Raum einzusetzen. Sie wurde in der aktuellen Situation zum Projekt „Keep Schengen alive“ weiterentwickelt, das zunächst mit Unterstützung von Bürgermeister*innen aus Grenzgemeinden durchgeführt und sodann vor allem von den Bürger*innen im luxemburgisch-deutschen Grenzgebiet getragen wurde. Weitere Bürger*inneninitiativen wurden vorgestellt, wie etwa die Einrichtung einer einschlägigen Facebook-Gruppe mit über 11.000 Mitgliedern oder die bekanntgewordene Videobotschaft von saarländischen Bürgermeister*innen an ihre Partnergemeinden in Frankreich.

 

Deutsch-französische Beziehungen: Ressentiments und Kommunikation

Außerdem wurden die medial vielfach diskutierten und für kaum mehr möglich gehaltenen Ressentiments diskutiert, die im Saarland und in Grand Est zwischen Deutschen und Franzosen aufkamen. Zukunftsorientiert hielt Florian Weber in diesem Zusammenhang fest, dass es von den persönlichen Erfahrungen abhängig sei, wie sich die Einstellung der Bürger*innen gegenüber dem Nachbarn verändert. Des Weiteren wurde die Rolle der politischen Akteure betont, um wieder grenzüberschreitendes Vertrauen herzustellen und die deutsch-französische Freundschaft zu stärken. Dies erschien umso wichtiger angesichts mangelnder Abstimmungsprozesse während der Grenzschließungen im März, wie Patrick Barthel anmerkte: Das Grenzmanagement stehe für eine Strategie des „Jeder-für-sich“ als eine damals vermeintlich „beste Lösung zur Eindämmung des Virus“. Auch in der gemeinsamen Krisenkommunikation wurden Schwachstellen aufgedeckt, die künftig vermieden werden sollten. So berichtete Philipp Krämer zwar von verschiedenen Initiativen, stellte aber eine national begrenzte Reichweite in der Grenzregion fest, ebenso wie eine mangelnde Adressierung der Bürger*innen.  

 

Ausblick: Zusammenarbeit in der Großregion

Abschließend hielten die Expert*innen fest, dass die aktuelle Situation trotz aller Kritik und einschneidender Erfahrung wesentliche Impulse gesetzt hat, um Kooperationsbeziehungen zu intensivieren und eingespielte Routinen der Zusammenarbeit zu überdenken. Außerdem sei eine aktive Bearbeitung der angeschlagenen deutsch-französischen Beziehungen notwendig, die über zurückgewonnenes Vertrauen, gemeinsames politisches und kommunikatives Handeln sowie die Förderung von Mehrsprachigkeit realisiert werden sollte. Ferner wurde auf die Bedeutung der Grenzraumforschung verwiesen, die sich nicht nur mit den gegenwärtigen Auswirkungen der Pandemie beschäftigen, sondern auch Vorschläge für die künftige Vertiefung der grenzüberschreitenden Kooperation vorlegen sollte.

 

 

 

Presse 

Die Grenzschließung und das Gefühl der Abweisung, in: Trierischer Volksfreund (08/06/2020). Weitere Informationen

Grenzwirklichkeiten in der Großregion, in: SR 2, Der Morgen (29/05/2020). Weitere Informationen

Grenzregion zwischen Enttäuschung und Zuversicht, in: Saarbrücker Zeitung (29/05/2020). Weitere Informationen

 

Videomitschnitt

 

 

Kontakt

Christian Wille

Department of Geography and Spatial Planning

Universität Luxemburg
Astrid M. Fellner

North American Literary and Cultural Studies

Universität des Saarlandes