Interview – Von der Schuman-Erklärung zur Renaissance der Grenzen
Interview – Von der Schuman-Erklärung zur Renaissance der Grenzen
75 Jahre nach der Schuman-Erklärung steht Europas Projekt der offenen Grenzen unter Druck. Das UniGR-CBS spricht mit zwei Forschenden der Universität Luxemburg über die Frage, was von der Vision eines grenzenlosen Europas geblieben ist – in einer Zeit, in der täglich 3,5 Millionen Menschen eine EU-Binnengrenze überqueren, Grenzkontrollen jedoch wieder zur politischen Normalität zu werden scheinen.
Birte Nienaber, Professorin für Politische Geographie, und Christian Wille, Senior Researcher in Border Studies, zeigen aus Sicht der Grenzforschung: Grenzen sind längst keine Linien mehr, sondern komplexe Machtapparate – oft unsichtbar, aber hochwirksam.
Der 9. Mai ist als Europatag bekannt und in Luxemburg sogar ein Feiertag. Wofür steht dieser Tag?
Es ist sicher kein Zufall, dass Luxemburg den Europatag in besonderer Weise feiert – das Land im Herzen Europas gilt als Symbol europäischer Integration. Der 9. Mai ist ein zentrales Datum für Europa: Vor genau 75 Jahren legte der damalige französische Außenminister Robert Schuman mit seiner Erklärung die Grundlage für ein vereintes Europa. Er präsentierte die politische Vision einer europäischen Föderation, die zunächst auf der gemeinsamen Kontrolle von Kohle- und Stahl beruhte – als ein Instrument zur Friedenssicherung. Daraus entwickelte sich, Schritt für Schritt, das, was wir heute als EU-Binnenmarkt kennen.
Kann man Robert Schuman also als einen Vordenker der europäischen Idee bezeichnen?
Unbedingt. Schuman war ein Visionär des europäischen Projekts. Besonders bemerkenswert ist das angesichts der historischen Umstände: Europa war 1950 noch von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs geprägt, die deutsch-französische Erbfeindschaft allgegenwärtig. In dieser Situation über nationale Grenzen hinwegzudenken, war ein radikaler Schritt. Heute sind grenzüberschreitende Verflechtungen für viele selbstverständlich – insbesondere im Schengenraum. Täglich überqueren schätzungsweise 3,5 Millionen Menschen eine EU-Binnengrenze, etwa 1,7 Millionen leben und arbeiten in unterschiedlichen Ländern. Luxemburg ist ein Paradebeispiel: Rund 233.000 Menschen pendeln täglich aus den Nachbarländern ein – das ist etwa die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes.
Seit einigen Jahren werden immer häufiger Grenzkontrollen an EU-Binnengrenzen eingeführt. Ist das nicht ein Rückschritt für Europa?
Tatsächlich beobachten wir eine Zunahme temporärer Grenzkontrollen, obwohl der Schengen-Kodex solche Maßnahmen nur bei ernsthaften Bedrohungen der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit erlaubt. Seit der Covid-19-Pandemie ist allerdings zu beobachten, dass insbesondere der Zustrom von Schutzsuchenden instrumentalisiert wird, um solche Bedrohungslagen auszurufen. Das ist politisch fragwürdig – besonders in den Ländern, in denen populistische Kräfte erstarken und demokratische Grundwerte untergraben. Diese Entwicklung gefährdet zentrale Errungenschaften der europäischen Integration und stellt das in Frage, was Robert Schuman 1950 formulierte und seit 1985 im Schengener Abkommen konkret verankert ist: ein Europa ohne Binnengrenzen.
Das Schengener Abkommen feiert in diesem Jahr sein 40-jähriges Bestehen. Wie wird dieses Jubiläum begangen?
Das Jubiläum ist Anlass, zurückzublicken – und vor allem vorauszuschauen. Am 11. Juni organisieren wir in Luxemburg eine öffentliche Konferenz, bei der wir mit Vertreter:innen der Europäischen Kommission, der Luxemburger Regierung, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Wissenschaftler:innen kritisch über die Entwicklung des Schengenraums diskutieren. Gemeinsam denken wir darüber nach, wie ein solidarischer und offener Raum in Europa auch in Zukunft möglich bleiben kann. Die Konferenz greift damit auch Schumans zentrale Frage von vor 75 Jahren auf: Wie lässt sich der Frieden in Europa nachhaltig sichern?
Die Durchlässigkeit von Grenzen scheint nicht nur in Europa umstritten. Leben wir in einem Zeitalter der Grenzen?
Begriffe wie „world of borders“ oder „renaissance of borders“ belegen das eindrücklich. Global erleben wir seit Jahren einen quantitativen Ausbau von Sicherheitsinfrastrukturen – in den USA spätestens seit 9/11, in Europa verstärkt seit dem sogenannten langen Sommer der Migration. Entscheidend ist jedoch nicht nur das „Mehr“ an Grenzen, sondern ihre veränderte Qualität. Grenzen sind heute keine bloßen Trennlinien mehr, sondern hochkomplexe Machtapparaturen. Sie selektieren entlang von Kategorien wie Zugehörigkeit, Nützlichkeit oder Sicherheit – und das nicht nur an Landesgrenzen, sondern auch in digitalen oder urbanen Räumen.
Welche Fragen wirft diese neue Qualität von Grenzen für die Forschung auf?
Die Grenzforschung hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Heute stehen Fragen nach digitaler Kontrolle, Big-Data-Management, Biometrie, diskursiven Kategorisierungen und nicht zuletzt der Resilienz demokratischer Systeme im Mittelpunkt. Die Border Studies sind längst ein interdisziplinäres Feld geworden, das Perspektiven aus Geographie, Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Kulturwissenschaft produktiv verbindet. Dieses breite Spektrum vermitteln wir auch unseren Masterstudierenden – sie setzen sich nicht nur analytisch mit der „world of borders“ auseinander, sondern werden praktisch vorbereitet, um das Europa von morgen mitzugestalten.
Wie genau sieht das im Masterprogramm aus, das Sie erwähnen?
Im trinationalen Master in Border Studies erleben die Studierenden einen grenzüberschreitenden Studienalltag: Lehrveranstaltungen finden an vier Universitäten in drei Ländern statt, das Lehrprogramm ist interdisziplinär und mehrsprachig aufgebaut und bietet eine raum- oder kulturwissenschaftliche Spezialisierung. Unsere Absolvent:innen erhalten einen Abschluss von allen vier beteiligten Universitäten und qualifizieren sich für anspruchsvolle Tätigkeiten – etwa in internationalen Organisationen, öffentlichen Verwaltungen, der Zivilgesellschaft oder der Forschung. Diesen Master zu studieren, bedeutet Europa und seine Grenzen in eigener Anschauung zu erfahren – aktuell sowohl mit als auch ohne Kontrollen beim Grenzübertritt.
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