BorderObs
BorderObs ist ein Ort für die rasche Veröffentlichung von Beobachtungen und wissenschaftlichen Kommentaren des aktuellen Zeitgeschehens. BorderObs steht offen für alle Mitglieder des UniGR-Center for Border Studies sowie für Gastautor:innen.
Die Kurzbeiträge sind in einfacher Sprache verfasst, können essayistischen Charakter haben und beziehen sich auf Grenzen und Grenzräume in der Großregion und darüber hinaus. Beitragsvorschläge können in deutscher, französischer oder englischer Sprache geschickt werden an borderstudies@uni.lu.
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Deutsch-französische grenzüberschreitende Berufsausbildung – aktuelle Herausforderungen aufgrund administrativer Barrieren (Ines Funk & Florian Weber, Universität des Saarlandes), 13/03/2024
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Nach den Zerwürfnissen mehrerer Kriege und der in den Köpfen verankerten deutsch-französischen Erbfeindschaft stehen verschiedene Entwicklungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Erfolgsgeschichte der Versöhnung und Verständigung (Defrance, 2021). Entscheidend dazu beigetragen haben politisches und zivilgesellschaftliches Engagement u.a. mit dem Aufbau von Städtepartnerschaften, dem Elysée-Vertrag von 1963, der mit dem Vertrag von Aachen 2019 seine Fortführung fand, europäische Integrationsschritte und eine wachsende grenzüberschreitende Zusammenarbeit (Filipová, 2015; Weber und Dörrenbächer, 2022; Defrance und Pfeil, 2021). Gleichzeitig hat die Covid-19-Pandemie vor Augen geführt, dass unumstößlich scheinende Errungenschaften – wie ein Europa offener Binnengrenzen – schnell wieder unterhöhlt werden können und wir uns nicht auf dem Erreichtem ,ausruhen‘ sollten (Brodowski et al., 2023; Weber et al., 2021; Weber und Dittel, 2023). Die Entwicklung der deutsch-französischen grenzüberschreitenden dualen Berufsausbildung ist ein Beispiel dafür (Funk et al., 2021).
Abbildung 1: Grenzüberschreitende Berufsausbildung als Beispiel der grenzüberschreitenden Kooperation und ihrer Herausforderungen © Universität des Saarlandes
In einem Forschungsvorhaben im Auftrag des Deutsch-Französischen Jugendwerks haben wir uns 2022-2023 auf Grundlage von Dokumentenanalysen, Interviews und teilnehmenden Beobachtungen auf die Suche nach ,administrativen Barrieren‘ in diesem Bereich gemacht. Im BorderObs-Beitrag geben wir dazu einen Einblick sowie einen Ausblick auf mögliche Handlungsansätze, um diese Hürden zu überwinden.
Grenzüberschreitende Berufsausbildung – zum Hintergrund: Abkommen und deren Reformen
Seit 2013 bzw. 2014 bestanden für die Oberrheinregion und Saarland-Lothringen Rahmen- und Durchführungsabkommen, die die grenzüberschreitende Berufsausbildung regelten. Ein Unterschied zwischen den Vereinbarungen bestand darin, dass in der Oberrheinregion auch das duale Studium durch die Rahmenvereinbarung abgedeckt war. 2011-2018 konnten 434 grenzüberschreitende Ausbildungsverträge abgeschlossen werden, von denen rund 3/4 auf das duale Studium entfielen (Hofmann und Kauber, 2022, S. 72). Im Saarland stieg die Anzahl bis 2020 nahezu kontinuierlich an, was 2014-2019 zu knapp 70 Verträgen führte. Angesichts des hohen individuellen Betreuungsaufwandes und der kleinen Zielgruppe kann dies durchaus als Erfolg gewertet werden.
Die Entwicklung wurde allerdings durch die Ausbildungsreform 2018 (Loi pour la liberté de choisir son avenir professionnel) in Frankreich gestoppt, in der die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden dualen Ausbildung nicht vorgesehen war. Zudem wurden die Zuständigkeiten für die grenzüberschreitende Ausbildung von den régions (Conseil Régional) auf zentrale opérateurs de compétences (OPCOs) übertragen. Bis dato gültige Finanzierungszusagen für den Besuch der Berufsschulen in Frankreich verloren ihre Gültigkeit und die Vereinbarungen von 2013/2014 konnten nicht mehr angewendet werden.
Seit 2020 waren grenzüberschreitende Ausbildungsverträge auf der Grundlage eines régime dérogatoire möglich, das jedoch jährlich verlängert werden musste. Die Covid-19-Pandemie verschärfte diese Situation. Im Zusammenspiel führte dies zu einem starken Einbruch der Zahl an grenzüberschreitenden Ausbildungsverträgen.
Am 21. Juli 2023 wurde von der deutschen und französischen Außerministerin das sog. Abkommen von Lauterbourg (Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende Berufsausbildung) unterzeichnet, das die neue Grundlage für die grenzüberschreitende Berufsausbildung darstellt. Damit ersetzt ein Abkommen auf nationaler Ebene, das den gesamten deutsch-französischen Grenzraum abdeckt, die bisherigen Vereinbarungen, wobei es nun durch die Parlamente beider Länder ratifiziert werden muss.
Administrative Barrieren als Herausforderung: Aufeinandertreffen politischer und administrativer Systeme
Unsere empirischen Erhebungen zeigen, dass verschiedene administrative Barrieren einer sich vertiefenden grenzüberschreitenden Berufsausbildung bis dato im Wege stehen.
Eine grundlegende Herausforderung der grenzüberschreitenden Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland birgt das Aufeinandertreffen eines zentralistischen und eine föderalistischen Staatssystems. In Paris getroffene Entscheidungen sind für Grenzregionen mitunter nicht hinreichend angepasst, in Deutschland wiederum können zwar regionale Regelungen getroffen werden, doch diese variieren durchaus von Bundesland zu Bundesland mit einhergehenden Problematiken der Abstimmung. Für die Berufsausbildung folgen hieraus auch unterschiedliche Zuständigkeiten der nationalen gegenüber der regionalen Ebene.
Hinzu kommen abweichende arbeitsrechtliche Vorgaben und Probleme bei der Zuordnung der Berufsbilder und Abschlüsse sowie der zuständigen Berufsschulen, Kammern und OPCOs. Selbst zwischen zwei eigentlich so eng verbundenen Ländern wie Deutschland und Frankreich ergeben sich zudem Probleme bei der Anerkennung von Abschlüssen, die durch eine grenzüberschreitende Ausbildung erworben wurden. Jugendliche und Unternehmen können geltende administrative Prozeduren nicht ohne Unterstützung bewältigen, so dass vermittelnde Akteur:innen notwendig sind.
Aus den Unterschieden zwischen den politischen und administrativen Systemen ergeben sich damit gewisse ,harte‘ Barrieren. Das Beispiel der skizzierten Ausbildungsreform 2018 in Frankreich zeigt zudem, dass sich die rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen auch als Nebeneffekt nationaler Entscheidungen, die gar nicht auf die grenzüberschreitende Berufsausbildung abzielen, ändern können. Daraus ergeben sich wiederum neue Herausforderungen.
Langer Atem erforderlich: Hürden hin zum Abschluss der grenzüberschreitenden Ausbildungsverträge
Die bestehenden Barrieren bedingen auf der operativen Ebene einen hohen Zeitaufwand für die Vorbereitung und den Abschluss grenzüberschreitender Ausbildungsverträge. In einem geführten Gespräch hieß es dazu plakativ: „Mais sinon administrativement, c’est quand même très compliqué, c’est l’enfer.“ Bevor es zur Unterzeichnung eines Vertrages kommt, müssen alle Fragen geklärt werden, die sich aus den Unterschieden zwischen den Systemen ergeben. Welche Berufsbildung mit welchem Abschluss im Nachbarland entspricht der gewünschten Ausbildung? Wenn kompatible Ausbildungen sowie ein passender Ausbildungsbetrieb und eine geeignete Berufsschule gefunden wurden, müssen drei unterschiedliche Ausbildungsverträge (ein deutscher und ein französischer Vertrag sowie die grenzüberschreitende Ausbildungsvereinbarung) sowie zahlreiche weitere Formulare ausgefüllt werden. Davon ist nur die grenzüberschreitende Vereinbarung explizit auf die grenzüberschreitende duale Berufsausbildung zugeschnitten.
Weiterhin müssen neben den Verträgen oft zusätzliche Dokumente oder Bescheinigungen vorgelegt werden, die im Nachbarland nicht bekannt sind. Auch während der Ausbildung besteht aufgrund der administrativen Komplexität Betreuungsbedarf. Selbst wenn für viele administrativen Barrieren pragmatische Vorgehensweisen gefunden und bestimmte Abläufe etabliert werden konnten, sind es oftmals nicht Ideal- oder Dauerlösungen. Die Interviewten beklagten zudem, dass sich die Vorgaben immer wieder ändern, sodass gefundene Lösungen oder angepasste Dokumente nicht mehr angewendet werden können. Falls es sich nicht um eine Ausbildung handelt, die mit denselben Partner:innen bereits zuvor durchgeführt wurde, ist für jeden Ausbildungsvertrag eine Einzelfallprüfung notwendig. Dies bedeutet nicht nur einen großen Aufwand beim Abschluss von Ausbildungsverträgen, sondern schreckt Jugendliche und Unternehmen im Vorhinein ab, diese Form der Ausbildung in Betracht zu ziehen.
Die beschriebenen Detailfragen führen in der Summe zu einem sehr hohen zeitlichen Aufwand. Dabei ist zu berücksichtigen, dass 90% der geschlossenen Verträge auf französische Jugendliche entfallen, die in deutschen Betrieben arbeiten. Mit der Ausbildung deutscher Auszubildender in Frankreich besteht damitdeutlich weniger Erfahrung, was die Abläufe in diesen Fällen erschwert.
Das Abkommen von Lauterbourg: Neuer Anlauf mit Hindernissen
Wie steht es nun um das neu abgeschlossene Abkommen von Lauterbourg? Eine abschließende Bewertung ist im Moment durch die noch ausstehende Ratifizierung nicht möglich. Als Vorteile wurden die größere politische Aufmerksamkeit in Paris und Berlin sowie die dadurch notwendige Vereinheitlichung von administrativen Verfahren genannt, z.B. durch standardisierte Formulare und feste Ansprechpersonen. Der Vergleich mit den vorherigen Regelungen und mit älteren Analysen zeigt, dass bestimmte administrative Barrieren seit 2013/2014 fortbestehen und in einigen Punkten kaum Fortschritte erreicht wurden. Mehrere Interviewte merkten an, dass die Erfahrungen der operativen Ebene mit den bisherigen Regelungen in die Verhandlungen des neuen Abkommens zwar eingeflossen sind, allerdings war die regionale Ebene nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt.
Die regionalen Akteur:innen betonten, dass viele Fragen noch offen seien, deren Regelung sie sich gewünscht hätten – eine Frage von Zuständigkeiten und Beteiligungen. Bei den Akteur:innen besteht aktuell Hoffnung, dass für das duale Studium zeitnah eine Lösung gefunden wird, sonst würde der Ausschluss dieser Ausbildungsform einen wirklichen Rückschritt bedeuten.
Résumé und potenzielle Lösungsansätze
Der kurze Einblick hat illustriert, wie abhängig die grenzüberschreitende Berufsausbildung von vielfältigen Einflüssen ist, die praktische Auswirkungen entfalten können. Besondere Relevanz hat hier die Verschiebung der Zuständigkeiten zwischenzeitlich etablierter Übereinkünfte auf die nationale Ebene erlangt, was wiederum auf deutscher Seite Herausforderungen im Mehrebenen-Geflecht mit sich brachte. Dabei kann es nicht das Ziel sein, unterschiedliche nationale Systeme angleichen zu wollen. Es bedarf allerdings zwingend eines wachsenden Bewusstseins auf allen politischen und administrativen Ebenen, welche Konsequenzen aus jeweils national getroffenen neuen bzw. angepassten Regelungen für die jeweils andere Seite resultieren können. Verschiedene der angerissenen Barrieren sind letztlich solche, die durchaus allgemein für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bis heute ,bremsend‘ wirken (vgl. dazu u.a. auch Crossey und Weber, 2021).
Für die grenzüberschreitende Berufsausbildung erscheinen folgende Lösungsansätze denkbar: die Schaffung von Ausnahmeregelungen für die grenzüberschreitende duale Ausbildung, die eine Abweichung von den nationalen Regelungen ermöglichen. Die im Aachener Vertrag für Grenzregionen vorgesehenen angepassten Rechts- und Verwaltungsvorschriften einschließlich Ausnahmeregelungen (Artikel 13 (2)) sind bis dato nicht zur Anwendung gekommen, was von dahingehenden Beharrungskräften und Vorbehalten zeugt. Hier könnte die Berufsausbildung ein passendes Experimentierfeld sein. Wo es möglich ist, sind zudem ,weiche‘ Regelungen zu treffen, die Spielräume lassen. Viele Interviewte betonen zwar die Wichtigkeit von eindeutigen Regelungen und einheitlichen Verfahren. Gleichzeitig unterstreichen sie, dass eine gewisse ,souplesse‘ hilfreich sei, die Entscheidungsspielräume ermöglicht. Entsprechend kommt der Festlegung von Ansprechpersonen, klaren Absprachen der Zuständigkeiten und der Entwicklung eines Ablaufplans für den Abschluss eines Ausbildungsvertrages ergänzend zentrale Bedeutung zu. Zur Unterstützung erscheinen grenzüberschreitende Ausbildungsvermittler:innen bzw. Fachexpert:innen auf dauerhafter Basis hilfreich.
Die genannten Ansätze zur Situationsverbesserung lassen sich nur mit hinreichenden finanziellen und personellen Ressourcen umsetzen, die aktuell jedoch (noch) nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Schließlich muss die Frage der automatischen Anerkennung des erworbenen Abschlusses im Nachbarland bzw. die Möglichkeit, direkt einen Doppelabschluss zu erwerben, einer Antwort zugeführt werden. Dann kann die grenzüberschreitende Berufsausbildung noch mehr Bedeutung erlangen.
Ines Funk und Florian Weber, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
Literatur
Brodowski, D., Nesselhauf, J. und Weber, F. (Hg.), (2023) Pandemisches Virus – nationales Handeln. Covid-19 und die europäische Idee, Springer VS, Wiesbaden.
Crossey, N. und Weber, F. (2021) Handlungsempfehlungen zur weiteren Gestaltung der grenzüberschreitenden Kooperation im deutsch-französischen Verflechtungsraum | Recommandations d‘action pour les orientations futures de la coopération transfrontalière dans le bassin de vie franco-allemand. UniGR-CBS Policy Paper 4.
Defrance, C. (2021) ‘Annäherung oder Aussöhnung?: Deutsch-französische Verständigung zwischen Mythos und Realität’, in Defrance, C. und Pfeil, U. (Hg.), Länderbericht Frankreich, bpb: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 50-66.
Defrance, C. und Pfeil, U. (Hg.), (2021) Länderbericht Frankreich, bpb: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.
Filipová, L. (2015) Erfüllte Hoffnung. Städtepartnerschaften als Instrument der deutsch-französischen Aussöhnung, 1950-2000, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Funk, I., Nienaber, B. und Dörrenbächer, H.P. (2021) ‘Cross-border vocational training as processes of cross-border learning’, Europa Regional, Vol. 26, No. 4, S. 17-30.
Hofmann, A. und Kauber, C. (2022) ‘Berufsbildungskooperationen an der deutsch-französischen Grenze: Die Eurodistrikte Strasbourg-Ortenau und PAMINA’, in Eberhardt, C. (Hg.), Berufsbildungskooperationen in ausgewählten Grenzregionen. Eine Bestandsaufnahme, Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn, S. 49-104.
Weber, F. und Dittel, J. (2023) ‘Die Covid-19-Pandemie als Zäsur für die Großregion: Eine Einordnung aus der Perspektive der Grenzraumforschung’, in Kazmaier, D. und Weber, F. (Hg.), Universität in der Pandemie. L‘université en temps de pandémie, transcript Verlag, Bielefeld, S. 207-228.
Weber, F. und Dörrenbächer, H.P. (2022) ‘Die grenzüberschreitende Region’, in Ermann, U. et al. (Hg.), Die Region – eine Begriffserkundung, transcript Verlag, Bielefeld, S. 181-190.
Weber, F., Theis, R. und Terrolion, K. (Hg.), (2021) Grenzerfahrungen | Expériences transfrontalières. COVID-19 und die deutsch-französischen Beziehungen | Les relations franco-allemandes à l‘heure de la COVID-19, Springer VS, Wiesbaden.
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Überlegungen für eine komplexitätsorientierte Grenzforschung (Christian Wille, Universität Luxemburg), 05/02/2024
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Seit Mitte der 2010er Jahre setzt sich in der Grenzforschung zunehmend die Auffassung durch, dass Grenzen komplexe Phänomene seien (Gerst et al. 2018; Scott 2021; Wille 2021; Brambilla 2023; Wille et al. im Druck). Daran wird die Erwartung geknüpft, simplifizierende Sichtweisen auf Grenzen zu überwinden, die einen Grenzbegriff der Linie und Schließung sowie die Idee eines territorialen Mosaiks separierter Nationalcontainer zu Grunde legen. Trotz der aufgekommenen Rede von Komplexität liegen kaum Arbeiten vor, die erklären, was genau mit komplexen Grenzen oder komplexitätsorientierter Grenzforschung gemeint ist (zum Beispiel: Gerst et al. 2018; Brambilla 2023; Wille im Druck).
Status quoDie Grenzforschung ist vielmehr von einem diffusen Komplexitätsverständnis und einer Pluralität dessen, was an Grenzen als komplex qualifiziert wird, geprägt. So wird häufig die Singularität, Multiplizität, Multidimensionalität, Multivalenz, Relationalität, Agonalität oder Diffundiertheit von Grenzen als komplex bezeichnet, ohne diese Qualifizierung näher zu reflektieren. Es scheint in der Debatte mitunter ein Alltagsverständnis von Komplexität verbreitet zu sein, das den Begriff vorschnell mit Kompliziertheit oder Unübersichtlichkeit gleichsetzt. Der Blick auf die Komplexitätstheorien zeigt aber, dass progressive Strömungen der Grenzforschung mit dem Komplexitätsdenken durchaus gut vereinbar sind. Es erscheint daher lohnend genauer darüber nachzudenken, was eine komplexitätsorientierte Grenzforschung sein kann und was sie leisten kann.
Grundideen des KomplexitätsdenkensPointiert formuliert fokussiert die Komplexitätsforschung auf materielle oder soziale Gefüge und ihre emergenten Eigenschaften, welche die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, in eigendynamischen Prozessen entfalten (Manson/O’Sullivan 2006, 678; Cilliers 2016, 141). Dabei leitend ist die Auffassung, dass das Ganze – etwa eine Grenze – mehr ist als die Summe seiner konstitutiven Teile. Oder analytisch formuliert: Die Eigenschaften von komplexen Gefügen können nicht über ihre Elemente, sondern über das unberechenbare und performative Zusammenspiel ihrer Elemente erklärt werden. Aus diesem Grund spielen in der Komplexitätsforschung die Begriffe der Interaktion und Emergenz eine wichtige Rolle: Sie zeigen den Fokus auf die wechselseitigen Beziehungen der Elemente und die aus ihrem Zusammenwirken hervorgehenden Eigenschaften der Gefüge an. Dabei interessiert Komplexitätsforschende in erster Linie, wie die beteiligten Elemente im Zusammenspiel welche Muster bzw. Ordnungen ausbilden, die dann für die Eigenschaften der Gefüge stehen.
Abbildung 1: Emergierende Ordnungen als Eigenschaften von komplexen Gefügen (Symbolbild), © gremlin.
Texturale Ontologie der Grenze
Diese Grundideen des Komplexitätsdenkens geben Hinweise darauf, wie eine komplexitätsorientierte Grenzforschung stringent ausgerichtet werden kann. Dazu zählt die elementare Frage, wie Grenzen als gefügeartige Gebilde mit ihren Bestandteilen konzeptuell gefasst werden können. Hier bietet die Texturalisierung von Grenzen geeignete Anknüpfungspunkte. Sie steht für das rezente Aufkommen von Ansätzen, welche Bordering-Prozesse umfassender denken: in der (erschöpfenden) Pluralität der für sie relevanten Praktiken, Dimensionen, Akteure und Formen sowie teilweise im Zusammenspiel derselben in Raum und Zeit. Zu solchen Ansätzen zählen zum Beispiel die ethnografische Grenzregimeanalyse (Transit Migration Forschungsgruppe 2007), borderscapes (Brambilla 2015), bordertextures (Weier et al. 2018) oder der Assemblage-Ansatz (Sohn 2016). Sie folgen einer texturalen Ontologie der Grenze und konzipieren diese als transterritoriales, transskalares oder transtemporales Gefüge, das aus mehr oder weniger in Beziehung stehenden polymorphen Elementen besteht.
Innenansichten der GrenzeDer Fokus der Komplexitätstheorien auf Beziehungen und die daraus hervorgehenden Ordnungen ist für die Grenzforschung ein Gewinn und eine Herausforderung zugleich: Einerseits ist die Idee der emergenten Ordnungen anschlussfähig an das ordnende und geordnete Prinzip der Grenze. Hier fragt eine komplexitätsorientierte Grenzforschung, wie und welche Ordnungen texturale Gefüge hervorbringen, die als Grenz(ziehung)en wirkmächtig werden. Andererseits erfordert dieser Fokus eine Dezentrierung der an Bordering-Prozessen beteiligten Elemente sowie eine Beobachtungsposition, die im performativen Zusammenspiel der Elemente verortet ist. Denn die empirische Beobachtung im performativen Geschehen erlaubt einen Blick auf das komplexe Zusammenspiel der Elemente und somit Einblicke in die eigendynamischen Emergenzen von B/Orderings. Geeignete Anknüpfungspunkte für solche Grenz-Innenansichten bieten Methodologien wie borderness (Green 2012), border as method (Mezzadra/Neilson 2013), migration as a prism (Hess 2018), bordertexturing (Weier et al. 2018) oder Grenzpraxeologie (Connor 2023; Gerst/Krämer 2017).
Border Complexities als PerspektiveAn die Überlegungen für eine komplexitätsorientierte Grenzforschung schließen eine Reihe weiterer Fragen an, die Gegenstandskonstruktion, geeignete Methoden, disziplinäre Zusammenarbeit u.v.m. betreffen. Für ihre Bearbeitung und weitere Diskussion wird ein Konzept vorgeschlagen, das Grenzen nicht per se für komplex erklärt, sondern eine komplexitätssensible Perspektive auf Grenzen bietet: Border Complexities soll für ein vom Komplexitätsdenken inspiriertes Konzept stehen, das (a) Grenzen als relationale Gefüge auffasst, (b) auf das eigendynamische und unberechenbare Zusammenspiel ihrer Bestandteile und (c) auf dessen emergente Un/Ordnungen, die als Borderings wirksam werden, fokussiert. Damit schließt Border Complexities an die texturale Ontologie der Grenze an, vollzieht eine Grenz-Innenansicht und geht analytisch weiter als nur danach zu fragen, welche Dimensionen in Bordering-Prozessen eine Rolle spielen oder inwiefern die beteiligten Elemente territorial, akteursbezogen und skalar verteilt sind. Denn Bordering-Prozesse, die durch die Komplexitätslinse betrachtet werden, lassen sich nicht – wie in der aktuellen Grenzforschung verbreitet – über die Pluralität oder Polymorphie der beteiligten Elemente und ihre räumliche Verteilung erklären. Border Complexities adressiert vielmehr das emergente Moment, das dort manifest wird, wo die Textur der an Bordering-Prozessen beteiligten Elemente lediglich Voraussetzung dafür ist, um ihre wechselseitigen Beziehungen – als ein für emergierende Un/Ordnungen wirksames Zusammenspiel – sichtbar und analysierbar zu machen. Border Complexities folgt der Bedeutung von complexus (lat.) somit in einer doppelten Weise: Zum einen adressiert das Konzept das, „what is woven together“ (Morin 2007, 6), zum anderen adressiert es die wechselseitigen Beziehungen der relevanten Elemente und die daraus hervorgehenden B/Orderings.
Anmerkung: Dieser Blog-Beitrag basiert auf dem in Kürze erscheinenden Buch: Wille, Christian/Leutloff-Grandits, Carolin/Bretschneider, Falk/Grimm-Hamen, Sylvie/Wagner, Hedwig (im Druck) (Hrsg.): Border Complexities and Logics of Dis/Order. Baden-Baden: Nomos, doi:10.5771/9783748922292. Vorschau
Christian Wille, UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg
Literatur
Brambilla, Chiara. 2023. Rethinking Borders Through a Complexity Lens: Complex Textures Towards a Politics of Hope. Journal of Borderlands Studies, online first: 1–20. doi:10.1080/08865655.2023.2289112.
Brambilla, Chiara. 2015. Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept. Geopolitics 20, no. 1: 14–34. doi:10.1080/14650045.2014.884561.
Cilliers, Paul. 2016. Complexity, deconstruction and relativism. Critical Complexity. Collected Essays, ed. Preiser, Rika, 139–152, Berlin/Boston: De Gruyter.
Connor, Ulla. 2023. Territoriale Grenzen als Praxis. Zur Erfindung der Grenzregion in grenzüberschreitender Kartografie, Baden-Baden: Nomos.
Gerst, Dominik, Maria Klessmann, Hannes Krämer, Mitja Sienknecht and, Peter Ulrich. 2018. Komplexe Grenzen. Aktuelle Perspektiven der Grenzforschung. Berliner Debatte Initial 29, no. 1: 3–11.
Gerst, Dominik and, Hannes Krämer. 2017. Methodologische Prinzipien einer allgemeinen Grenzsoziologie. Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, ed. Lessenich, Stephan, 1–10, online: https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2016 (15/03/2023).
Green, Sarah. 2012. A Sense of Border. A Companion to Border Studies, eds. Wilson, Thomas M., and Hastings, 573–592. Malden: Wiley-Blackwell.
Hess, Sabine. 2018. Border as Conflict Zone. Critical Approaches on the Border and Migration Nexus. Migration. Changing Concepts, Critical Approaches, ed. Bachmann-Medick, Doris and, Jens Kugele, 83–99, Berlin/Boston: de Gruyter.
Manson, Steven and, David O’Sullivan. 2006. Complexity theory in the study of space and place. Environment and Planning A 38: 677–692. doi:10.1068/a37100.
Mezzadra, Sandro and, Brett Neilson. 2013. Border as Method, or, the Multiplication of Labor. Durham/London: Duke University Press.
Morin, Edgar. 2007. Restricted complexity, general complexity. Worldviews, Sciences and Us – Philosophy and Complexity, eds. Gershenson, Carlos, Diederik Aerts and, Bruce Edminds, 5–29. Singapore: World Scientific Publishing.
Scott, James. 2021. Bordering, ordering and everyday cognitive geographies. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 112, no. 1, 26–33. doi:10.1111/tesg.12464.
Sohn, Christophe. 2016. Navigating borders’ multiplicity: the critical potential of assemblage. Area 48, no. 2: 183–189.
Transit Migration Forschungsgruppe. 2007. Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript.
Weier, Sebastian, Astrid M. Fellner, Joachim Frenk, Daniel Kazmaier, Eva Michely, Christoph Vatter, Romana Weiershausen and, Christian Wille. 2018. Bordertexturen als transdisziplinärer Ansatz zur Untersuchung von Grenzen. Ein Werkstattbericht. Berliner Debatte Initial 29, no. 1: 73–83.
Wille, Christian. forthcoming. Border Complexities. Outlines and Perspectives of a Complexity Shift in Border Studies. Border Complexities and Logics of Dis/Order, eds. Wille, Christian, Carolin Leutloff-Grandits, Falk Bretschneider, Sylvie Grimm-Hamen and, Hedwig Wagner, Baden-Baden: Nomos.
Wille, Christian. 2021. Vom processual shift zum complexity shift: aktuelle analytische Trends der Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium, eds. Gerst, Dominik, Maria Klessmann, and Hannes Krämer, 106–120. Baden-Baden: Nomos. doi:10.5771/9783845295305-106
Wille, Christian, Carolin Grandits-Leutloff, Falk Bretschneider, Sylvie Grimm-Hamen and, Hedwig Wagner. forthcoming. Border Complexities and Logics of Dis/Order, Baden-Baden: Nomos. doi:10.5771/9783748922292.
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Chancen und Frustrationen eines geschlossenen Grenzregimes zwischen Tadschikistan und Afghanistan in Badachschan: Rückkehr in die Isolation? (Mélanie Sadozaï, George Washington University), 16/08/2023
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Text auf Englisch verfügbar.
Mélanie Sadozaï, George Washington University (USA), Woodrow Wilson Center (USA), National Institute for Oriental Languages and Civilizations (France)
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Cultural Border Studies – Zur Institutionalisierung eines aufstrebenden Forschungsfelds (Christian Wille, Universität Luxemburg), 28/06/2023
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Die Cultural Border Studies befassen sich mit sozialen und symbolischen Dimensionen von Grenzen. Sie sind aus der Verschneidung des cultural turn in den Border Studies mit dem border turn in den Cultural Studies hervorgegangen und adressieren Fragen auf alltagskultureller und künstlerisch-ästhetischer Ebene. Im Zuge des Wiedererstarken von Grenzen haben die Cultural Border Studies weiter an Bedeutung gewonnen, was sich in einer fortschreitenden Institutionalisierung widerspiegelt.
Fachgesellschaften
Die wichtigste Fachgesellschaft für Border Studies ist die Association for Borderlands Studies, die 1976 in den USA gegründet zunächst Grenzforschende versammelte, die zur US-mexikanischen Grenze arbeiteten. Im Zuge der Entwicklung der Border Studies schlossen sich Grenzforschende aus allen Teilen der Welt der Fachgesellschaft an. Heute organisiert die Association for Borderlands Studies regelmäßig eine Jahrestagung in Nordamerika und eine Weltkonferenz, die alle vier Jahre stattfindet. Die Weltkonferenz im Jahr 2023 wurde von der Ben-Gurion University im Dreiländereck Israel – Jordanien – Ägypten ausgerichtet. Die Jahrestagungen und Weltkonferenzen der Fachgesellschaft listen in ihren Programmen zunehmend kulturwissenschaftliche Vorträge und Panels und haben sich als zentrale Plattformen für die globale Gemeinschaft der Grenzforschenden etabliert.
Abbildung 1: Grenzforschende des UniGR-CBS auf der Weltkonferenz 2023 der Association for Borderlands Studies in Eilat (Israel).
Abbildung 2: Sektion „Kulturwissenschaftliche Border Studies“ auf der Jahreskonferenz 2018 der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Hildesheim (Deutschland), Foto: UniGR-CBS 2018.Im Gegensatz zur Association for Borderlands Studies ist die Kulturwissenschaftliche Gesellschaft e.V., die als Fachgesellschaft im deutschsprachigen Raum eine wichtige Rolle für die Cultural Border Studies spielt, in Sektionen organisiert. Diese stehen für thematische Arbeitsgruppen, darunter auch die Sektion „Kulturwissenschaftliche Border Studies“, die seit 2016 besteht. Sie wurde auf Initiative von Grenzforschenden der Universität Luxemburg, Universität des Saarlandes und Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) mit dem Ziel gegründet, kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Herangehensweisen innerhalb der Border Studies gezielt zu entwickeln und als Arbeitsfeld zu etablieren. Die Sektionsmitglieder treffen sich regelmäßig, kooperieren in Forschungs- und Publikationsprojekten und beteiligen sich an den Jahrestagungen der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e.V. Im Jahr 2020 fand in Zusammenarbeit mit der Sektion die Jahrestagung „B/Ordering Cultures: Alltag, Politik, Ästhetik“ (8.-10. Oktober) an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) statt.
Forschungszentren und Netzwerke
Hinsichtlich der Forschungszentren und Netzwerke der Border Studies sind die ersten Gründungen im US-mexikanischen Kontext auszumachen (z.B. Center for Latin American and Border Studies (1979), Colegio de la Frontera Norte (1982)), gefolgt von Zentren in Europa in den 1990er Jahren (z.B. Centre for Border Research (1989), Nijmengen Center for Border Research (1998)). Ab der Jahrtausendwende sind vor allem in Europa vermehrt Neugründungen zu beobachten (z.B. Institut des Frontières et Discontinuités (2006), Centre for Border Region Studies (2016)), begleitet von diversen räumlichen Schwerpunktsetzungen (z.B. African Borderlands Research Network (2007), Asian Borderlands Research Network (2008), VERA Centre for Russian and Border Studies (2011)).
Im deutschsprachigen Raum stechen zwei Forschungszentren heraus, die eine dezidiert kulturwissenschaftliche Orientierung aufweisen. Dazu zählt das Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, das 2013 an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) als Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung ins Leben gerufen wurde. Die beteiligten Wissenschaftler:innen der Europa-Universität Viadrina und anderer Universitäten untersuchen dort Grenzziehungs-, Ordnungs- und Migrationsprozesse im interdisziplinären Verbund. Zuletzt haben sie die Konferenzen „Contesting 21st Century B/Orders” (6.-8.9.2023) sowie „B/ORDERS IN MOTION: Current Challenges and Future Perspectives“ (15.-17.11.2018) durchgeführt.
Abbildung 3: Das interdisziplinäre Kompetenzzentrum UniGR-CBS stellt sich vor. UniGR-CBS Promo-Video 2022.
Abbildung 4: Eröffnung der Konferenz „B/ORDERS IN MOTION: Current Challenges and Future Perspectives“, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Foto: Lisa Melcher 2018.
Daneben ist das UniGR-Center for Border Studies zu erwähnen, das 2014 als grenzüberschreitendes Forschungsnetzwerk gegründet und 2022 in ein interdisziplinäres UniGR-Kompetenzzentrum überführt wurde. Dazu zählen die Grenzforschenden des Verbunds „Universität der Großregion (UniGR)“, das heißt der Universität des Saarlandes, Universität Trier, Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (Deutschland), Universität Lothringen (Frankreich), Universität Luxemburg (Luxemburg) und der Universität Lüttich (Belgien). Ihre Arbeitsschwerpunkte reichen von den Cross-Border Studies (z.B. Arbeitsmarkt und Raumplanung in Grenzregionen) über Cultural Border Studies (z.B. Kultur, Sprache, Identitäten) bis hin zu theoretisch-konzeptionellen Fragen der aktuellen Grenzforschung.
Abbildung 5: Vortragsreihe „Atelier Bordertextures“ mit dem Grenzforscher Johan Schimanski. Foto: UniGR-CBS 2018.
Abbildung 6: UniGR-CBS-Konferenz „Border Renaissance. Recent Developments in Territorial, Cultural and Linguistic Border Studies” (Februar 2022). Video UniGR-CBS 2022.Die kulturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftler:innen des UniGR-Center for Border Studies sind in der Arbeitsgruppe „Bordertextures“ organisiert und erproben einen Ansatz, der Grenzen als ein dynamisches und wirkmächtiges Gefüge fasst. Zuletzt hat das UniGR-Center for Border Studies die internationale Konferenz „Border Renaissance. Recent Developments in Territorial, Cultural and Linguistic Border Studies“ (4.-5.2.2022) und die Europa-Konferenz der Association for Borderlands Studies „Differences and Discontinuities in a ‚Europe without Borders‘“ (04.–07.10.2016) ausgerichtet.
Publikationsmedien
Als einschlägiges Publikationsmedium der Border Studies gilt das Journal of Borderlands Studies, das 1986 in den USA ins Leben gerufen wurde. Nachdem dort überwiegend Ergebnisse der Geopolitical Border Studies publiziert wurden, hat sich die Fachzeitschrift heute auch für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Ansätze geöffnet. Daneben besteht seit 2019 die Open Access-Fachzeitschrift Borders in Globalization Review, die an der University of Victoria, British Columbia im Rahmen des Forschungsprogramms „Borders in Globalization“ eingerichtet wurde und kunst-, kultur- sowie sozialwissenschaftliche Grenzforschung adressiert.
Außerdem haben sich verschiedene Buchreihen etabliert, die über geopolitische Betrachtungen hinausgehen zugunsten kulturwissenschaftlicher Betrachtungen. Dazu zählt die Reihe Routledge Borderlands Studies (hrsg. von James W. Scott und Ilkka Liikanen), die Arbeiten zu grenzüberschreitenden Verflechtungen, Alltagskulturen u.v.m. in Grenzregionen in Nordamerika und Europa, aber auch in Afrika, Asien und Lateinamerika publiziert. Die Reihe Rethinking Borders (hrsg. von Sarah Green und Hastings Donnan) wurde im Zuge des Projekts EastBordNet – Remaking Borders in Eastern Europe (COST 2009-2013) eingerichtet, wird heute von der Manchester University Press herausgegeben und bietet eine Plattform für vorzugsweise ethnografische Forschung, die sich mit dem alltagskulturellen Erleben von Grenzen und Mobilitäten auseinandersetzt.
Abbildung 7: Das Journal of Borderlands Studies und Handbücher der Grenzforschung mit kulturwissenschaftlichen Bezügen. Foto: UniGR-CBS 2023.
Abbildung 8: Die Buchreihe „Border Studies. Cultures, Spaces, Orders“ (Nomos-Verlag) mit kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Foto: UniGR-CBS 2022.Im deutschsprachigen Raum hat sich die Buchreihe „Border Studies. Cultures, Spaces, Orders“ (hrsg. von Astrid M. Fellner, Konstanze Jungbluth, Hannes Krämer, Christian Wille) als Forum für Cultural Border Studies etabliert. Sie erscheint auf Deutsch oder Englisch im Nomos-Verlag und umfasst kulturwissenschaftliche Analysen von Grenzen aus literatur- und sprachwissenschaftlicher, soziologischer oder sozialanthropologischer Perspektive.
Auch wenn die Border Studies als interdisziplinäres Arbeitsfeld keinen abgesteckten Kanon an Theorien und Ansätzen aufweisen, sind verschiedene Einführungswerke erschienen. Dazu zählen The Ashgate Research Companion to Border Studies (Wastl-Walter 2011) oder Introduction to Border Studies (Sevastianov et al. 2015), die vor allem die Geopolitical Border Studies adressieren. Kulturwissenschaftliche Orientierungen finden eher Berücksichtigung in A Companion to Border Studies (Wilson und Donnan 2012) oder A Research Agenda for Border Studies (Scott 2020), die jeweils alltagskulturelle Dimensionen von Grenzen einschließen. Mit dem Handbuch Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (Gerst et al. 2021) ist im deutschsprachigen Raum die derzeit jüngste Einführung mit kulturwissenschaftlichen Schwerpunkten erschienen.
Text auf Englisch und Französisch verfügbar.
Christian Wille, UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg
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Planning Borderlands: Untersuchungsansätze zur Raumentwicklung in Grenzgebieten und erste Erkenntnisse aus dem brandenburgisch-polnischen Grenzraum (Kirsten Mangels, Nino Pfundstein, Karina Pallagst, Benjamin Blaser (Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau)), 08/05/2023
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Text auf Englisch verfügbar.
Benjamin Blaser, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Kirsten Mangels, UniGR-Center for Border Studies, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Karina Pallagst, UniGR-Center for Border Studies, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Nino Pfundstein, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
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Communicative Borderlands : Das Beispiel der Berufsausbildung (Konstanze Jungbluth, Galyna Orlova, Nicole Richter, Dagna Zinkhahn Rhobodes (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)), Leonie Micka, Claudia Polzin-Haumann (Universität des Saarlandes)), 27/04/2023
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Text auf Englisch verfügbar.
Konstanze Jungbluth, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Leonie Micka, Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies
Galyna Orlova, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Claudia Polzin-Haumann, Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies
Nicole Richter, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Dagna Zinkhahn Rhobodes, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
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Hybrid Borderlands : Bordertexturing Films (Tobias Schank, Universität des Saarlandes), 20/04/2023
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Text auf Englisch verfügbar.
Tobias Schank, Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies
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Energy Borderlands : Beispiele für vernetzte Gebiete entlang der deutschen Grenzen (Kamil Bembnista, Ludger Gailing, (Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg), Alexandra Lampke, Florian Weber (Universität des Saarlandes)) 13/04/2023
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Text auf Englisch verfügbar.
Kamil Bembnista, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
Alexandra Lampke, Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies
Ludger Gailing, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
Florian Weber, Universität des Saarlandes, UniGR-Center for Border Studies
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Policy Borderlands: Politikwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit (Stefanie Thurm, Julia Wagner (Universität des Saarlandes), Peter Ulrich, (Universität Potsdam)) 06/04/2023
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Text auf Englisch verfügbar.
Stefanie Thurm, Universität des Saarlandes
Peter Ulrich, Universität Potsdam, Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Julia Wagner, Universität des Saarlandes
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Grenzen in der Stadt – Urban Borderlands entlang des Ourcq-Kanals in Paris (Corinna Jürgens, Universität des Saarlandes) 16/03/2023
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Paris – dieser Name ruft oft die Assoziation ‚Stadt der Liebe‘ oder das Bild einer Modemetropole hervor. Reiseführer preisen den Eiffelturm und den Louvre als Must-See Highlights auf einem Städtetrip an. Auch Vorstellungen einer schillernden Metropole mit Köstlichkeiten wie Pains au chocolat prägen das Bild. Die Pariser Vororte, die banlieues, dagegen kommen in den Vorstellungen der Menschen von Paris selten vor.
Paris und seine banlieues – ein ambivalentes Verhältnis
Dabei leben im Großraum Paris deutlich mehr Menschen als in dem Gebiet, das administrativ als ‚Paris‘ bezeichnet wird. 12,2 Millionen Menschen nennen die Region Île-de-France ihr Zuhause. In Paris (75. Département) lebt mit 2,1 Millionen Menschen also nur ein Bruchteil derjenigen, die regelmäßig nach Paris zur Arbeit oder Freizeitgestaltung einpendeln. Immer weniger Menschen können sich die hohen Lebenshaltungskosten leisten. Während Paris zu den teuersten Städten weltweit gehört, sind die Lebenshaltungskosten in den Städten des Départements Seine-Saint-Denis nordöstlich von Paris durchschnittlich deutlich günstiger (s. Abb. 1).
Abb. 1: Paris und die banlieues in Seine-Saint-Denis. Quelle: Eigene Darstellung, Geodaten © OpenStreetMap und Mitwirkende, CC-BY-SA
Die nordöstlichen Vororte von Paris werden jedoch mitunter mit einem negativen Image assoziiert: sie gelten tendenziell als unsicher, haben die zweithöchsten Arbeitslosigkeitszahlen Frankreichs und Seine-Saint-Denis stellt eines der ärmsten französischen Départements dar (Insee 2022, o. S.; Insee 2023, o. S.; Weber 2016, S. 94). Der Gegensatz zur Kernstadt ist also groß und das Image kann einem Umzug in diese Vororte im Wege stehen. In den letzten Jahren kann jedoch ein Umbruch beobachtet werden, der zu sicht- und unsichtbaren Veränderungen führt und das Leben dort umgestaltet. Unter anderem wird das Gebiet um den Ourcq-Kanal zunehmend attraktiver (s. Abb. 2).
Vor diesem Hintergrund diskutiert der Blogpost die mit dem baulichen und sozialen Wandel verbundenen städtischen Grenzziehungsprozesse in Urban Borderlands.
Abb. 2: Moderne Wohnungen am Canal de l'Ourcq in Pantin. Quelle: Corinna Jürgens 2022
Die Plaine de l‘Ourcq wandelt sich
Angefangen hat die städtische Transformation im ersten Ring um Paris u. a. in Pantin. In der nordöstlich an die administrative Stadtgrenze von Paris anschließende Stadt wurden die alten Getreidemühlen, die am Canal de l’Ourcq liegen und noch heute von der industriellen Vergangenheit des Gebiets zeugen, renoviert und dienen seit 2009 als Büroflächen für die Bank BNP Paribas (Albecker 2015, o. S.). Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklungsprojekte ist dabei das Areal entlang des Ourcq-Kanals: Neben prestigeträchtigen Unternehmensansiedelungen in den letzten zwei Jahrzehnten sind im Gebiet der Plaine de l’Ourcq in umfangreichen Stadtentwicklungsprojekten bis 2030 die Schaffung von neuem Wohnraum für etwa 25.000 Menschen geplant. Auf einer Fläche von 200 ha wird einerseits auf die Wohnungsknappheit in der Metropolregion reagiert, andererseits werden neue Büro- und Einzelhandelsflächen geschaffen, öffentliche Räume gestaltet und kulturelle Angebote umgesetzt (Est Ensemble 2018, S. 2). So entstehen in fünf Gemeinden – von Pantin bis Bondy – neue Nutzungen, die zu einer weiteren Heterogenisierung der banlieues beitragen.
Pariser Urban Borderlands
Diese Veränderungsprozesse lassen sich gut mit dem Konzept der Urban Borderlands fassen. Sie bezeichnen hybride Übergangsbereiche, in denen die Dichotomie von als urban und suburban eingestuften Elementen verschwimmen und sich kleinteilige Räume durch vielschichtige, komplexe Prozesse entwickeln (Iossifova 2013, S. 4; Iossifova 2019, S. 4; Roßmeier und Weber 2021, S. 7). In diesen städtischen Grenzräumen kann sich ein Nebeneinander von Funktionen ausbilden, wie in der Plaine de l’Ourcq in Form von Gewerbeflächen, Wohnraum, Kleingärten und raumprägender Verkehrsinfrastruktur wie Gleisanlagen. Indem Einfamilienhaussiedlungen an von der area-basierten Stadtpolitik geförderte Sozialwohnungen grenzen, Hochhaussiedlungen neben Mehrfamilienhäusern gebaut sind und moderne, hohe Neubauten mit Eigentumswohnungen und Sozialwohnungen entstehen, ergibt sich ein Mix aus verschiedenen Wohnformen. Damit geht oftmals ein Mix aus unterschiedlichen Einkommen, Bildungsgraden und Freizeitinteressen einher (Weber und Kühne 2020, S. 49–51). So lassen sich sozialräumlich (un)gleiche Nachbarschaften und mosaikartige Strukturen in den Städten um den Kanal erkennen (ebd., S. 50).
Abb. 3: Wohnungsneubau im ehemals industriell geprägten Gebiet. Quelle: Corinna Jürgens 2022
B/Ordering am Canal de l’Ourcq
Bisherige Ergebnisse meines laufenden Dissertationsprojekts zeigen, dass dynamische innerstädtische Grenzziehungsprozesse auf zwei Ebenen stattfinden, die sich auf das Zusammenleben und den Alltag der Menschen vor Ort auswirken: einerseits auf materieller Ebene und damit baulich manifestiert, andererseits auf immaterieller Ebene wie auf sozialer, psychologischer Ebene. Ein Beispiel für soziale Grenzziehungen stellt das Nebeneinander verschiedener Lebensstile dar. Beispielsweise werden Pariser:innen von Bewohner:innen der banlieues mit einem ‚urbanen Lebensstil‘ assoziiert und ihr Zuzug damit, dass eine neue Urbanität in das Gebiet dringt und so zu einer Urbanisierung im ehemals als suburban gelesenen Raum führt. Zu diesem ‚urbanen Lebensstil‘ können Konsumgewohnheiten oder Freizeitinteressen gezählt werden, die sich überwiegend von den bisher ansässigen Bewohnenden unterscheiden. Gleichzeitig ist es wichtig hervorzuheben, dass auch für die bisher entlang des Canal de l’Ourcq lebenden Menschen keine Homogenität angenommen werden kann. Als eine tendenziell als ‚urbanes Bedürfnis‘ eingeschätzte Verhaltensweise wird bspw. die Nachfrage nach biologischen Lebensmitteln eingestuft, welche in dem als suburban gelesenen Gebiet bis vor einigen Jahren eher nicht wahrgenommen wurde.
Othering
Diese Abgrenzungsprozesse, in denen bestimmte Personengruppen als anders wahrgenommen werden und ihnen bestimmte Eigenschaften und Differenzen zugeschrieben werden, können mit dem Konzept des Othering beschrieben werden (Wille 2021, S. 109). Paasi (2021, S. 20, 23) unterscheidet in Bordering und Ordering-Prozesse, in denen über soziale Praktiken und Diskurse Abgrenzungen und Einordnungen vorgenommen werden und die damit einen Beitrag zum Othering leisten. Der Unterschied zwischen ‚uns‘ (‚us‘) und ‚dem Anderen‘ (‚the Other‘) kann neben der Gruppe zugeschriebenen Eigenschaften auch mit Ortsangaben verknüpft werden und konstruierte Gegensatzpaare wie richtig – falsch, gut – schlecht, erstrebenswert – nicht erstrebenswert etc. aufmachen (ebd., S. 20). Diese haben Auswirkungen auf unseren Alltag und genauer darauf, wie wir über andere Gruppen (nicht) denken und (nicht) miteinander agieren. So beeinflussen diese sozialen Grenzziehungsprozesse auch, inwiefern wir mit- oder nebeneinander leben und inwiefern es in unserem Zusammenleben zu Zugehörigkeitsgefühlen, aber auch zu Ausgrenzungen und Stigmatisierungen kommen kann.
Um die dynamischen Grenzziehungsprozesse am Canal de l’Ourcq analysieren zu können, sind spezieller die Konzepte des Re- und Debordering hilfreich. Bei erstgenanntem werden Grenzen (re-)produziert und potenziell verfestigt, bei letztgenanntem werden Grenzen destabilisiert und potenziell weniger bedeutsam (Liao et al. 2018, S. 1094).
Abb. 4: Moderne und umzäunte Neubauten. Quelle: Corinna Jürgens 2022
Re- und Debordering
In den untersuchten Gebieten im Großraum Paris lassen sich auf sozialer Ebene Prozesse des Reborderings beobachten, die sich in Abgrenzungen der bereits ansässigen Bewohner:innen und neu Zuziehenden mit Blick auf Lebensstile und Wohnformen äußern (s. Abb. 4). Ohne die einzelnen Personen zu kennen, werden ihnen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben und es wird vermutet, dass sie so wie andere Pariser:innen Wert auf biologisch oder fair produzierte Lebensmittel legen – um bei obigem Beispiel zu bleiben. Die Personen werden jeweils durch andere mit bestimmten Eigenschaften assoziiert, angenommene oder beobachtete Verhaltensweisen diskursiv (re-)produziert, sodass sich nach und nach ein Bild bzw. mehrere Bilder der ‚Neuen‘ im Vergleich zu den ‚Alten‘ ausformen.
Abb. 5: Neue Brücken erleichtern den Austausch über den Canal de l'Ourcq hinweg. Quelle: Corinna Jürgens 2022
Neben neuen Grenzziehungen ist auch die Auflösung von Grenzen, also ein Debordering, zu beobachten. Indem neue Fußgänger:innenbrücken gebaut werden, die Nord- und Südufer des Kanals miteinander verbinden, kann von einer Überwindung physischer Grenzen gesprochen werden. Ein neuer Austausch wird über einen einfacheren Zugang in das ehemals schlechter zu erreichende Gebiet ermöglicht. Zu beobachten ist dies in Bobigny (s. Abb. 5), wo gegenüber einer Parkanlage neue Wohnungen entstanden sind. Ehemals voneinander getrennte Gebiete sind nun physisch miteinander verbunden, was dazu führen könnte, dass die Neuzugezogenen südlich des Kanals bspw. im Park mit Bewohner:innen aus Bobigny nördlich des Kanals in Kontakt kommen.
Facettenreiche Zukunft am Wasser?
Wie dargestellt wurde, verändern sich die Gemeinden entlang des Ourcq-Kanals auf sozialer und baulicher Ebene. Eine von den Pariser Arrondissements ausgehende Aufwertung zieht sich den Ourcq-Kanal entlang und wird von Diskussionen um potenzielle Verdrängung begleitet, die im Zuge der Aufwertung des Gebietes durch steigende Lebenshaltungskosten erfolgen könnte. Neben fast abgeschlossenen Bauabschnitten, wie in Pantin, werden andere Gebiete entlang des Kanals erst in den nächsten Jahren eine Veränderung erfahren.
In diesen dynamischen Urban Borderlands entlang des Ourcq-Kanals werden auch zukünftig viele Transformationen stattfinden, die mit intra-urbanen Grenzziehungen dazu führen, dass die Metropole Paris noch mehr Facetten ausbildet. Im Zuge der Metropolisierung der Métropole du Grand Paris, der neuen Verkehrsanbindungen innerhalb der Pariser Vororte durch das Vorhaben des Grand Paris Express, der Veränderungen im Zuge der Olympischen Spiele im Jahr 2024 und der sich neu bildenden Wohn- und Arbeitsvorstellungen durch die COVID-19-Pandemie ist es ausgesprochen spannend, diese Urban Borderlands zu analysieren und die sozialen Auswirkungen zu erforschen.
Mehr Informationen zum aus Mitteln der DFG geförderten Promotionsprojekt der Autorin hier.
Corinna Jürgens, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
Literaturverzeichnis
Albecker, Marie-Fleur (2015): Banlieues françaises / La banlieue parisienne, périphérie réinvestie ? http://www.revue-urbanites.fr/la-banlieue-parisienne-peripherie-reinvestie/, accessed 04.05.2022.
Est Ensemble (2018): La Plaine de l’Ourcq réinvente la ville dans la Métropole. 200 ha à aménager le long du canal de l’Ourcq. Romainville. https://www.est-ensemble.fr/sites/default/files/cartoguide-plainedelourcq_mars2018.pdf, accessed 03.03.2023.
Insee (2022): Principaux résultats sur les revenus et la pauvreté des ménages en 2019. Dispositif Fichier localisé social et fiscal (Filosofi). https://www.insee.fr/fr/statistiques/6436484?sommaire=6036904#tableau-figure2_radio1, accessed 03.03.2023.
Insee (2023): Taux de chômage localisés au 3ᵉ trimestre 2022. Comparaisons régionales et départementales. https://www.insee.fr/fr/statistiques/2012804, accessed 03.03.2023.
Iossifova, Deljana (2013): Searching for common ground: Urban borderlands in a world of borders and boundaries. In: Cities 34, 1–5. DOI: 10.1016/j.cities.2013.01.006.
Iossifova, Deljana (2019): Borderland. In: Anthony M. Orum, Dennis Judd, Marisol Garcia Cabeza, Choon-Piew Pow und Bryan Roberts (Hg.): The Wiley-Blackwell Encyclopedia of Urban and Regional Studies. Chichester: Wiley Blackwell, 1-4.
Liao, Kaihuai; Breitung, Werner; Wehrhahn, Rainer (2018): Debordering and rebordering in the residential borderlands of suburban Guangzhou. In: Urban Geography 39 (7), 1092-1112. DOI: 10.1080/02723638.2018.1439438.
Paasi, Anssi (2021): Problematizing ‘Bordering, Ordering, and Othering’ as Manifestations of Socio‐Spatial Fetishism. In: Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 112 (1), 18–25. DOI: 10.1111/tesg.12422.
Roßmeier, Albert; Weber, Florian (2021): Hybrid Urban Borderlands – Redevelopment Efforts and Shifting Boundaries In and Around Downtown San Diego. In: Journal of Borderlands Studies (online first), 1–27. DOI: 10.1080/08865655.2021.1882872.
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Weber, Florian; Kühne, Olaf (2020): Hybride Grenzen. Stadt-Land-Entwicklungsprozesse im Großraum Paris aus der Perspektive der Border Studies. In: Geographische Rundschau (1/2-2020), 48–53.
Wille, Christian (2021): Vom processual shift zum complexity shift: Aktuelle analytische Trends der Grenzforschung. In: Dominik Gerst, Maria Klessmann und Hannes Krämer (Hg.): Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos (Border Studies. Cultures, Spaces, Orders, 3), 106–120.
Text verfügbar auf Englisch
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Zugänge zur Grenze zwischen Diffundierung und Fortifizierung (Christian Wille, Universität Luxembourg), 02/01/2023
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Grenzen bestimmen spätestens seit den 2010er Jahren wieder die politische Agenda und stehen verstärkt im Zentrum gesellschaftlicher Debatten. Das Wiedererstarken von Grenzen manifestiert sich allerdings auf den ersten Blick in einer paradoxen Weise. Denn während wieder Grenzmauern gebaut, Zäune eingepflockt und Grenzanlagen als territoriale Markierungen ausgebaut werden, finden Regulations- und Kontrollpraktiken zunehmend transterritorial zersplittert und unsichtbar statt. Diese Entwicklungen untergraben und beschwören zugleich die verbreitete Idee, Grenzen seien linienhafte Markierungen des territorialen Rands. Vor allem aber verweisen sie auf die Notwendigkeit, den vielerorts noch unhinterfragten Grenzbegriff zu überdenken. Dafür werden im Folgenden ausgewählte Zugänge überblicksartig vorgestellt.
(1) Grenzen als individualisierte Verkörperungen
Besonders die Technologisierung der Grenze, die auch als Smartification umschrieben wird, hat die Grenze in ihrer Sichtbarkeit und Materialität erheblich verändert. Sogenannte smart borders stehen für Überwachungsapparate via Satelliten, Drohnen, Radarsysteme, für das Erfassen und Speichern von biometrischen Daten, für Big-Data-Automatisierungen oder algorithmische Projektionen von (Flucht-)Bewegungen. Dabei gehen menschliche Körper fortlaufend Allianzen mit technischen Apparaturen ein und werden zu Trägern der Grenze (Amoore, 2006). Die technologiebasierte Verkörperung der Grenze, bei der der menschliche Körper als Checkpoint fungiert (Grosser/Oberprantacher 2021: 392), gilt als zentrales Merkmal der Grenze zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Schulze Wessel 2016: 52). Steffen Mau (2021: 156) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der traditionellen territorialen Grenze als ‚Personengrenze‘, welche die Bewegung mehr oder weniger aller Personen reguliere und der ‚individualisierten Grenze‘, die nach Grenzpersonen unterscheide: „Mit dem Wachstum an Informationen, biometrischer Erkennung […] soll gewährleistet werden, dass die als riskant oder unerwünscht klassifizierten [Grenz-]Personen […] herausgefiltert werden, aber dass dadurch der Durchstrom aller anderen […] nicht ins Stocken gerät.“ (ebd.: 156f.)
(2) Grenzen als ubiquitäre Pop-up-PhänomeneAus diesen Entwicklungen resultiert eine Diffundierung der Grenze, da sie nicht länger exklusiv am territorialen Rand verortet werden kann. Sie diffundiert im Raum und gibt sich dort zu erkennen, wo Regulations- und Kontrollpraktiken stattfinden: „Die an individuelle Körper und digitale Geräte geheftete biometrische und elektronisch vernetzte Grenze füllt die Gesamtheit staatlicher Räume aus und folgt Subjekten wohin auch immer sie sich bewegen.“ (Pötzsch 2021: 289) Wie ein Wachhund in technologischer Gestalt also zieht die Grenze transterritorial umher und schlägt unvermittelt an, sobald sich Grenzpersonen nähern: sie lauert an Flughäfen, Bahnhöfen oder anderen Transitorten auf, spürt in Wüsten oder auf dem Meer auf oder beobachtet aufmerksam die vorausberechneten Fluchtrouten. Als unberechenbares Pop-up-Phänomen ist die Grenze räumlich mobil und wird ubiquitär (Balibar 2002: 84). Ihre Allgegenwärtigkeit ist aber nur für jene relevant, die über (durchaus changierende) „Sortierlogiken“ (Mau 2021: 15) zu Grenzpersonen gemacht und so in die Unhintergehbarkeit der Grenze verbracht werden. Sie verharren in einem „allgegenwärtige[n] Zustand potenzieller Verfolgung“ (Pötzsch 2021: 289), den die Geographin Clémence Lehec mit dem Begriff „frontière de Damoclès“ (2020: 185) treffend fasst. Während Grenzpersonen also überall mit der Grenze rechnen müssen, die sich jederzeit als Kontroll- und Selektionsapparat in Stellung bringen kann, ist sie für andere kaum sichtbar und relevant.
(3) Grenzen als Signaturen einer „Walled World“Neben der schwindenden Sichtbarkeit und differenzierten Ubiquität der Grenze ist eine weitere Entwicklung zu beobachten, die auf die Multiplizierung von sichtbaren fortifizierten Grenzen entlang territorialer Ränder hindeutet (Gülzau et al. 2021; Vallet 2021). Der Trend der border fortification hat sich vor allem in den letzten Jahren intensiviert, so dass heute weltweit ein Fünftel der Landesgrenzen mit Zäunen, Mauern oder Gräben ausgerüstet sind (Mau et al. 2021: 149). Benedicto et al. (2020) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Walled World“, wenn sie den Bau von Grenzmauern in den letzten 30 Jahren bilanzieren: zwischen 1989 und 2018 sei ihre Zahl weltweit von sechs auf 63 gestiegen, von denen allein 14 im Jahr 2015 zum Höhepunkt der 2010er Fluchtbewegungen errichtet wurden. In Europa hat die Fortifizierung der Schengen-Binnengrenzen im Jahr 2015 eingesetzt, als einige EU-Mitgliedstaaten infolge von Fluchtbewegungen und Terroranschlägen wieder Kontrollen einführten und zusätzliche Grenzanlagen errichteten. Fünf Jahre später wiederholte sich dieser Vorgang deutlich drastischer mit dem bis dahin beispiellosen „covidfencing“ (Medeiros et al. 2021) im Zuge der Covid-19-Pandemie.
(4) Grenzen als Sehnsüchte kollektiver (R)Einheit
Mauern, Zäune und andere Fortifizierungen des territorialen Ein- und Ausschlusses bleiben offenbar „widerständige Institutionen“ (Mau et al. 2021: 150), obgleich sie stets permeabel sind und sich für tatsächliche Schließungsprozesse kaum effizient erweisen. Dieser Widerspruch wird in der verbreiteten „populist glorification of borders” (Van Houtum 2021: 40) ausgeblendet zugunsten von leicht eingängigen Argumenten, die gegen Einwanderung und Kriminalität oder für Sicherheit und den Schutz von Wohlstand stehen (Korte 2021: 52; Vallet 2021: 11). Ein prominentes Beispiel dafür ist die Mauer an der U.S.-mexikanischen Grenze, die Massimiliano Demata (2023) diskursanalytisch als ein nationenkonstitutives Othering entlarvt. Damit verweist der Linguist geradezu exemplarisch auf die symbolische Funktion von border fortifications, die vor allem auf Selbstvergewisserungen und deren Versicherheitlichungen basieren. Henk van Houtum fasst solche selbstkonstitutiven Prozesse, die sich in Grenzmauern materialisieren, mit dem Konzept der „id/entity”, das den Zusammenhang von territorialer und kollektiver (R)Einheit anzeigen soll: „[W]e have seen an increasing desire to further strengthen the border in the name of protection and purification of a self-declared id/entity.” (2021: 34) In solchen Prozessen werden in der Regel bestimmten Personengruppen, die zu den Anderen gemacht werden sollen, Risiken zugeschrieben, die einen vermeintlichen Schutz des Eigenen durch Mauern und Zäune legitimieren. Border fortifications zielen demnach nicht exklusiv auf die sichtbaren Grenzmaterialitäten. Vielmehr sind sie als Materialisierungen von kulturellen Prozessen zu verstehen, die angetrieben von einer „border anxiety“ (Almond 2016) risikobehaftete Grenzpersonen als Dispositive der Selbstvergewisserung hervorbringen.
(5) Grenzen als Materialisierungen kultureller Ordnungsprozesse
Die Multiplizierung von fortifizierten Grenzen an den territorialen Rändern erschließt sich also über kulturelle Prozesse, die für das dynamische und instrumentalisierte Wechselspiel identitärer Kategorien stehen. Solche Prozesse folgen sorgfältig inszenierten Risikopolitiken, die nicht nur bestimmte Personengruppen stigmatisieren, sondern mit Hilfe von Bedrohungsszenarien stets das Sicherheitsargument mobilisieren. Dabei erweisen sich die (bedrohlichen) Unsicherheiten und (existentiellen) Risiken genauso variabel wie jene Gruppen, die ausgeschlossen bleiben sollen bzw. zu Grenzpersonen gemacht werden: „Es gibt eine fortwährend aktualisierte Sicherheitsrhetorik, die die Grenze immer wieder umcodiert und gegen äußere Risiken abwehrfähig machen soll.“ (Mau 2021: 158) Damit ist auch für die fortifizierten Grenzen am territorialen Rand festzuhalten, dass es sich hier – jenseits der ohnehin regulativen Wirksamkeit von Grenzbefestigungen – um unberechenbare und selektive Filterprozesse handelt. Denn während die schwindende Wahrnehmbarkeit und differenzierte Ubiquität der Grenze über Allianzen aus spezifischen Körpern und technischen Apparaturen erklärt werden kann, werden im Zuge der border fortifications spezifische Personengruppen für den Einsatz stationärer Grenzmaterialitäten aufgerufen. Beide Entwicklungen beruhen auf Klassifizierungspraktiken, die als kulturelle Ordnungsprozesse nicht nur veränderbar sind, sondern auch Ungleichheiten erzeugen.
(6) Grenzen als Produkte und Produzentinnen von Ungleichheit
Das Prinzip der Grenze basiert auf Unterscheidungen, die sozial und räumlich wirksame kulturelle Ordnungen einsetzen oder (de-)stabilisieren. Sie manifestieren sich in Klassifizierungspraktiken bzw. digitalen Kodierungen von Menschen und wurden selten so umfänglich durchgesetzt, wie es die Technologisierung heute erlaubt oder wie es als erforderlich erklärt wird, um ‚unerwünschte‘ Grenzpersonen auszuschließen. Solche Ordnungsprozesse sind jedoch nicht für alle Menschen in gleicher Weise bedeutsam. Darauf hat Etienne Balibar (2002: 81) schon frühzeitig mit seiner Feststellung „[Borders] do not have the same meaning for everyone” hingewiesen und der Grenze eine „polysemic nature“ (ebd.) zugeschrieben. Die Philosophen Florian Grosser und Andreas Oberprantacher (2021: 394) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Plastizität der Manifestationen von Grenzen“, die eine „Ungleichverteilung von (Im-)Mobilität“ bewirke. Die Plastizität, die für die Selektivität des Prinzips der Grenze steht, umschreiben Sandro Mezzadra und Brett Neilson (2013: 175) wiederum mit einem variablen „hardening and softening [of the border]“. Damit wollen beide Autoren die Ungleichheiten betonen, die über die selektiven Ordnungslogiken von Grenzen (re-)produziert werden. Grenzen sind demnach gewisse Valenzen oder Relevanzen eingeschrieben, die sich mit Blick auf unterschiedliche (Grenz-)Personen unterscheiden und in entsprechend spezifischen Wirksamkeiten zum Ausdruck kommen. Grenzen können daher als multivalent charakterisiert werden (Wille et al. 2023).
Christian Wille, UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg
Literatur
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Amoore, L. (2006) ‘Biometric borders: Governing mobilities in the war on terror’, Political Geography, Vol. 25 No. 3, S.336–351.
Balibar, E. (2002) Politics and the Other Scene, Verso, London/New York.
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Demata, M. (2023) Discourses of Borders and the Nation in the USA. A Discourse-Historical Analysis, Routledge, London/New York.
Grosser, F. und Oberprantacher, A. (2021) ‚Einleitung: Pandemie der Grenze‘, Zeitschrift für Praktische Philosophie, Vol. 8 No. 1, S.385–402.
Gülzau, F., Mau, S. und Korte, K. (2021) ‘Borders as Places of Control. Fixing, Shifting and Reinventing State Borders. An Introduction’, Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Vol. 46 No. 3, S.7–22.
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Mau, S., Gülzau, F., Korte, K. (2021) ‚Grenzen erkunden. Grenzinfrastrukturen und die Rolle fortifizierter Grenzen im globalen Kontext’. in Löw, M., Sayman, V., Schwerer, J. und Wolf, H. (Hg.), Am Ende der Globalisierung. Über die Refiguration von Räumen. transcript, Bielefeld, S.129–153.
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Aus der Corona-Krise lernen? Deutsch-polnische Grenzregion – 30 Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrags (Elżbieta Opiłowska, Universität Breslau), 19/08/2021
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Im März 2020 wurde die deutsch-polnische Grenze – wie viele andere Grenzen in Europa – aufgrund der Covid-19-Pandemie geschlossen. Da diese Entscheidung in Warschau von der polnischen Regierung getroffen wurde, war die Grenzschließung sowohl für die Grenzraumbewohner*innen als auch die lokalen politischen Akteur*innen ein Schock. Denn hier manifestierte sich die staatliche Macht gegenüber den lokalen und regionalen Entscheidungsträger*innen sowie der EU (Tarvet und Klatt, 2021) und zeigte den „advent of unilateralism“ (Böhm, 2021) an. Plötzlich durften die Grenzpendler*innen nicht mehr zur Arbeit fahren, Schüler*innen mussten zu Hause bleiben, viele Familien und Freunde wurden getrennt (Jańczak, 2020; Opiłowska, 2020; Wille und Kanesu, 2020; Weber, Theis, Terrolion, 2021).
Die jüngeren Menschen, für die offene Grenzen im Schengen Raum bis dahin eine Selbstverständlichkeit waren, haben erstmalig mit Zäunen versperrte Brücken und Posten der Grenzpolizei gesehen. Die ältere Generation hat diese Erfahrung an den Kalten Krieg erinnert, als die deutsch-polnische Grenze für ein streng kontrolliertes Grenzregime stand. Was hat diese Krise gezeigt? Welche Lehren werden daraus gezogen? Bevor ich auf diese Fragen eingehe, stelle ich kurz die Geschichte der deutsch-polnischen Grenzregion dar.
Reglementierte NachbarschaftDie deutsch-polnische Grenzregion gehört historisch zu den neuen Grenzregionen, die infolge des Zweiten Weltkriegs und der Westverschiebung der deutsch-polnischen Grenze entstanden sind. Diese politische Entscheidung war mit massiven Migrationsbewegungen verbunden: Tausende von Deutschen mussten ihre Häuser verlassen, die bezogen wurden von Vertriebenen aus den an die Sowjetunion verlorenen Ostgebieten, von rückkehrenden Zwangsarbeiter*innen, Umsiedler*innen aus Zentral- und Südpolen und von vielen anderen, die ein neues Leben im „wilden Westen“ (Halicka, 2013) anfangen wollten. Im Unterschied zu den alten historischen Grenzregionen lebten hier nun Menschen, die keine Nachbarschaftserfahrungen hatten; d.h. es gab keine Minderheit und Mischehen, keinen kulturellen Transfer und die Sprache bildete eine große Kommunikationsbarriere. Darüber hinaus war die Grenzregion über Jahre hinweg einer starken Ideologisierung unterworfen. Zunächst war es die kommunistische Propaganda der Friedensgrenze und der sozialistischen Freundschaft zwischen der DDR und Volksrepublik Polen.
Marksteine der EuropäisierungNach dem Fall des Eisernen Vorhangs ging man sehr schnell zur Idee der europäischen Integration über: Die Grenzstädte wurden zu Euro(pa)städten ernannt und die in den 1990er Jahren gegründeten Euroregionen (Euroregion Neisse, Pro Europe Viadrina, Spree-Neisse-Bober and Pomerania) sollten die Grundlage für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bilden. Diesen EUropa-Diskurs haben die Grenzbewohner*innen allerdings vor allem als ein Projekt der Bürgermeister wahrgenommen und nationale Stereotypen sowie mentale Barrieren blieben noch lange bestehen (Opiłowska, 2009). Die nächsten Zäsuren, welche die Hindernisse im deutsch-polnischen Verhältnis nach und nach abbauten, waren Polens Beitritt zur EU (2004), Polens Beitritt zum Schengen Abkommen (2007) und die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für polnische Arbeitnehmer*innen (2011). Im Jahr 2014 hat der Deutsch-Polnische Raumordnungsausschuss das „Gemeinsame Zukunftskonzept für den deutsch-polnischen Verflechtungsraum – Vision 2030“ ausgearbeitet, in dem die Grenze nicht mehr als eine Trennlinie zwischen zwei Staaten abgebildet ist, sondern nur über die Grenzflüsse Oder und Neisse sichtbar wird. In der Vision 2030 werden u.a. der Ausbau des gemeinsamen Arbeitsmarktes, die Förderung des Tourismus, die Zusammenarbeit der Hochschulen und Bildungseinrichtungen sowie der Schutz des natürlichen und kulturellen Erbes angestrebt. Diese Vision eines integrierten Lebensraums war für viele Bewohner*innen des Grenzraums bereits eine Realität.
Triebkräfte der grenzüberschreitenden ZusammenarbeitDie Pandemie-Jahre 2020 und 2021 waren für die deutsch-polnischen bilateralen Beziehungen wichtige Jubiläumsjahre. Denn 1990 wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag und ein Jahr später der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Beide Dokumente legten ein Fundament für die künftige grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Im Artikel 12 des Nachbarschaftsvertrages wurde „der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Regionen, Städten, Gemeinden und anderen Gebietskörperschaften, insbesondere im grenznahen Bereich“ eine besondere Bedeutung beigemessen. Im Weiteren wurden beide Staaten verpflichtet, eine solche Zusammenarbeit in allen Bereichen zu erleichtern und zu fördern.
Obwohl sich die deutsch-polnischen zwischenstaatlichen Beziehungen seit dem Regierungswechsel in Polen im Jahr 2015 deutlich abgekühlt haben, hat sich die grenzüberschreitende Kooperation weiterhin rege entwickelt. Das historische Erbe schien nunmehr keine Rolle mehr zu spielen und die Grenze wurde eher als eine Ressource betrachtet. Die EU-Förderprogramme setzten gute Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Projekte und eine vertiefte Integration und waren eine wichtige Triebkraft für transnationales Handeln. Das Sprichwort „im selben Boot sitzen“, das einer meiner institutionellen Interviewpartner verwand, um die Situation in der Grenzregion zu beschreiben, spiegelt die Denkweise der lokalen Akteur*innen sehr gut wider (Opiłowska, 2021). Nicht mehr die Idee der Versöhnung oder der europäischen Integration wurden bei der Erarbeitung der grenzüberschreitenden Projekte in den Vordergrund gestellt – wie etwa in den 1990er Jahren –, sondern es dominierten ein gemeinsames Interesse und eine Praxisorientierung. Manche Akteur*innen bedauerten sogar die mangelnde ideelle Untermauerung des bilateralen Verhältnisses und meinten, dass die Orientierung an praktischen Problemen vor Ort langfristig nicht die nötige Triebkraft für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit entfalten kann (Opiłowska, 2021). Wird die Corona-Pandemie und ihre Folgen eine neue Zäsur für die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in der Grenzregion markieren?
Covid-19 und die Grenzschließung: ReaktionenDie Schließung der deutsch-polnischen Grenze hat verschiedene Reaktionen hervorgerufen (Kajta und Opiłowska, 2021a). Darunter – wie in anderen Grenzregionen auch – eine große Solidarität mit den Nachbarn, die sich in performativen Akten äußerte. Außerdem wurden offene Briefe und Appelle an die polnische Regierung gerichtet, in denen man die Besonderheit der Grenzregion betonte und auf die negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Grenzschließung hinwies. Czesław Fiedorowicz, der Vorstandsvorsitzende der Föderation der Euroregionen der Republik Polen, appellierte etwa an den polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki, die Grenzbeschränkungen in den Euroregionen aufzuheben: „Wir leben in einer starken Symbiose und brauchen uns gegenseitig. Guben für Gubin, Löcknitz für Szczecin, Zgorzelec und Görlitz, Cieszyn und Český Těšín, Nový Targ und Kežmarok, Suwałki und Marijampole sind scheinbar 'im Ausland', aber die Bindungen, die die Menschen, ihren Arbeitsort, ihren Wohnort, ihre familiären Bindungen, ihre Schul- und Universitätsausbildung, die medizinische Behandlung, die Gesundheitsversorgung und die alltäglichen Kontakte betreffen, sind oft sehr intensiv“.
Abbildung 1: Banner am Flussufer in Słubice, Foto: Daniel Szurka, Quelle: https://www.facebook.com/NaszeSlubicePL (23.04.2020)
Ferner wurde am 17. April 2020 die polnische Facebook-Gruppe „Grenzgänger zusammen (alle Länder)“ gegründet mit dem Ziel, sich einander zu unterstützen. Am 19. April 2020 wurde ein Manifest der Grenzraumbewohner*innen veröffentlicht, in dem die Abschaffung der Quarantänepflicht nach dem Grenzübertritt für Menschen, die im Grenzgebiet leben und arbeiten, gefordert wurde. Außerdem betonte man, dass die polnische Regierung die Grenzschließung ohne Rücksicht auf die Grenzbewohner*innen vollzogen hat, indem sie zwischen beruflicher und gewöhnlicher – menschlicher – Pflicht (Trennung von Kindern, Eltern und Partnern) wählen mussten, da tägliches Pendeln nicht mehr möglich war. Das Manifest berief sich auch auf die europäische Identität der Grenzbewohner*innen: „All das [die Möglichkeit grenzüberschreitend zu leben] wurde uns von Europa garantiert – denn wir sind nicht nur Polen, und daran werden wir erinnern, sondern wir fühlen uns auch als freie Europäerinnen und Europäer“. Diese normative Argumentation mit Blick auf eine europäische Identität trat – neben der Betonung der schwierigen Situation für Grenzpendler*innen – auch bei den Protestaktionen zum Vorschein, die im April und Mai 2020 in deutsch-polnischen Grenzregionen organisiert wurden.
Grenzöffnung mit starker GesteLetztendlich wurde die Grenze in der Nacht von 12./13. Juni 2020 wieder geöffnet, was von Hunderten Frankfurter und Słubicer Bewohner*innen enthusiastisch gefeiert wurde. Dafür symbolisch steht die spontane Umarmung des Oberbürgermeisters von Frankfurt (Oder), René Wilke, und des Bürgermeisters von Słubice, Mariusz Olejniczak, auf der Grenzbrücke. Diese Geste hatte Schlagzeilen gemacht, als sich der Frankfurter Oberbürgermeister dafür im Nachhinein selbst angezeigt hatte – war die Umarmung doch ein Verstoß gegen die Corona-Maßnahmen. Er hat sie aber nicht bereut: „Die Situation, in der Mariusz und ich uns kurz umarmt haben, die hatte etwas Befreiendes, ließ mich spüren, welche Last gerade von vielen Bürgerinnen und Bürgern unserer Städte abfiel. Unser Agieren als Repräsentanten dieser Menschen war für mich noch nie so authentisch wie in diesen drei Sekunden. Die Geste war nicht geplant, aber wichtig.“ (Pressestelle, 15.06.2020, Quelle: www.frankfurt-oder.de)
Abbildung 2: Die Umarmung von René Wilke (Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder)) und Mariusz Olejniczak (Bürgermeister von Słubice) auf der Grenzbrücke, Foto: Peggy Lohse [Waldmann, MOZ, 13.6.2020]
Krise als Impuls für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Meine Interviews mit lokalen Akteure*innen, die für die deutsch-polnische grenzüberschreitende Zusammenarbeit verantwortlich sind (vgl. Kajta und Opiłowska, 2021b), zeigen, dass polnische und deutsche Expert*innen überzeugt sind, dass die Erfahrung der Grenzschließung sowohl den Entscheidungsträger*innen als auch den Grenzraumbewohner*innen einen Schub und neue Energie für die Zusammenarbeit geben wird. Sie gehen davon aus, dass die Grenzschließung den Bewohner*innen bewusst gemacht hat, wie stark ihre Lebenswirklichkeiten bereits grenzüberschreitend organisiert sind und dass offene Grenze eine europäische Errungenschaft darstellen. Andererseits hat diese Erfahrung aber auch die schwache und fragile Position lokaler Strukturen und „Agency“ gegenüber staatlichen Akteuren aufgezeigt. Aus diesem Grund wollen die lokalen Akteur*innen den Austausch mit den zentralen Behörden verbessern, so dass ihre Stimmen in Warschau und Berlin mehr Gehör finden und die besonderen Verhältnisse in der Grenzregion dort stärker zur Kenntnis genommen werden. Diese neuen grenzüberschreitenden Strategien und Projekte befinden sich noch im Aufbau, weshalb noch nicht abzuschätzen ist, wie erfolgreich die lokalen Akteur*innen in ihren Bemühungen sein werden.
Elżbieta Opiłowska, Center for Regional and Borderlands Studies, Universität Breslau
Referenzen
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Waldmann, N. (2020), Bürgermeister von Frankfurt und Słubice umarmen die offene Grenze, Märkische Oderzeitung, 13.06.2020, https://www.moz.de/lokales/frankfurt-oder/stadtbruecke-buergermeister-von-frankfurt-und-slubice-umarmen-die-offene-grenze-49172058.html [Zugriff am 22.7.2021].
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Grenzerfahrungen – eine Zwischenbilanz zum Verflechtungsraum SaarLorLux in Zeiten der Covid-19-Pandemie (Florian Weber, Universität des Saarlandes), 22/07/2021
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Die Covid-19-Pandemie hat seit dem Frühjahr 2020 auf tiefgreifende Weise vorherige Gewohnheiten und Gewissheiten angegriffen und auf den Kopf gestellt. Wer hätte sich bis dahin vorstellen können, dass es zu einer „neuen Normalität“ werden könnte, täglich Informationen darüber zu verfolgen, wie viele Covid-19-Erkrankungen global, regional oder lokal verzeichnet werden und wie viele weitere Todesfälle zu beklagen sind? Auch das Fiebern nach Fortschritten bei der Entwicklung von Impfstoffen unterschiedlicher Hersteller stellte ein Novum dar. Und wer hätte vormals auf Anhieb gewusst, mit welchem Impfstoff welches Herstellers ein Schutz gegen Grippe oder ähnliches aufgebaut wurde - wo wir nun Vektor- gegenüber mRNA-Impfstoffen von AstraZeneca, BioNTech-Pfizer oder Moderna abwägen? Masken – zuerst aus Stoff, dann als OP- oder FFP2-Masken – stellen eine weitere beispielhafte Komponente dar. Rund 1,5-Jahre Pandemie mit mehreren Wellen haben nun letztlich bereits das Außergewöhnliche zum festen Bestandteil des Alltags werden lassen.
Forschungsvorhaben aus unterschiedlichen (inter)disziplinären Kontexten sind zwischenzeitlich bereits auf den Weg gebracht oder befinden sich in Vorbereitung. Recht früh in der ersten Welle der „Coronakrise“ wurde der BorderObs-Blog des UniGR-Center for Border Studies initiiert, um das für viele Grenz(raum)forscher:innen eigentlich kaum Vorstellbare zu beleuchten: verstärkte Grenzkontrollen und in Teilen Grenzschließungen im globalen Maßstab und gerade auch innerhalb der Europäischen Union (zusammengestellt im Anschluss von Wille und Kanesu, 2020; beispielhaft und bis heute geradezu surreal dazu Abbildung 1). Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet 35 Jahre nach der Unterzeichnung des Schengener Abkommens nationalstaatliche Grenzen zum Gesundheitsschutz herangezogen wurden und so die Idee – vielleicht auch eher die Utopie – eines „borderless Europe“ unterlaufen wurde (Opiłowska, 2021). Insgesamt ließ sich im Frühjahr 2020 eine „Strategie der Verdichtung bestehender Grenzen“ beobachten (Cyrus und Ulrich, 2021, S. 26). Vielleicht handelt es sich bei diesem „nationalen Reflex“ gleichzeitig um eine Warnung vor einem „taken for granted“: sich frei in der EU bewegen zu können, ist eben keine unumstößliche Selbstverständlichkeit und bis heute steht die Personenfreizügigkeit mit dem konzeptuellen Rahmen von Grenzen in Verbindung (Wassenberg, 2020, S. 115). Rund 1,9 Millionen Grenzpendler*innen (2018) im Schengen-Raum sind hierauf täglich angewiesen (Meninno und Wolff, 2020, o.S.). Die Ereignisse der Pandemie erfordern einen neuen Fokus der Border Studies auf innereuropäische Grenzen mit veränderten Fragestellungen und Schwerpunktsetzungen, wie jüngst Christian Wille in seinem BorderObs-Beitrag vom 20. Juni 2021 verdeutlicht hat. Auch mich „lassen“ die Geschehnisse in Grenzregionen „nicht mehr los“.
Abbildung 1: Verbarrikadierter Grenzübergang – formal ein „nicht-notifizierter Grenzübergang“ – zwischen Merzig (Saarland) und Waldwisse (Moselle) im Frühjahr 2020. Quelle: Aufnahme Brigitte Weber 2020.
Die Grenzzäsur von Mitte März 2020 und ihre Folgen2020 und 2021 konnte ich zahlreiche Gespräche und schriftliche Austausche mit Politiker:innen unterschiedlicher Maßstabsebenen, mit Verwaltungsmitarbeiter:innen und mit Akteuren des Gesundheits- und Kulturbereichs, der Medien und der Wissenschaft führen. Fast durchgehend zeigte sich dabei, dass Mitte März als ein „Riss“ in der europäischen Idee bzw. – mit meiner Schwerpunktsetzung auf die deutsch-französisch-luxemburgische Grenzregion – als ein Rückschlag für das grenzüberschreitende Verhältnis bewertet wird. In einer Online-Diskussionsrunde am 8. Juli 2021 merkte Christophe Arend, Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, an, dass viele die verstärkten Grenzkontrollen de facto als „Grenzschließungen“ erlebt hätten. „Mentale Grenzen“ waren und sind zurück auf der Tagesordnung (Wassenberg, 2020, S. 119). Medeiros et al. (2021) haben zwischenzeitlich die Auswirkungen des grenzbezogenen Handelns an europäischen Beispielen herausgearbeitet und als „covidfencing“ bezeichnet. Die Wortwahl trägt dem „Gefühl“ der Abriegelung sehr gut Rechnung. Als Grenzraumforscher erscheint es mir gleichzeitig erforderlich, differenzierter an solche Formen und Wirkungen des bordering heranzugehen. Wichtig erachte ich hier, unterschiedliche Maßstabsebenen und deren Interdependenzen zu berücksichtigen – von europäischem über nationales Handeln bis hin zu den Konsequenzen für die Einzelnen, die beispielsweise zwischenzeitlich im „Dickicht“ der unterschiedlichen Regelungen den Halt verloren haben.
Die Covid-19-Krise hat neben den grenzregionalen Schattenseiten – wie zum Beispiel das Wiederaufflammen der überwunden geglaubten Ressentiments – eindrücklich und sichtbar vor Augen geführt, wie stark Grenzräume heute in Teilen bereits für Verflechtungsräume, Kontaktzonen bzw. Borderlands stehen (Crossey, 2020; Crossey und Weber, 2020; Wille und Weber, 2020). Markant zeigt sich dies in der Großregion mit ihrem „Kern“ SaarLorLux: Rund 250.000 Grenzgänger:innen leben hier den grenzüberschreitenden Austausch, grenzüberschreitende Wohnmobilität ist normal geworden und auch grenzüberschreitende Berufsausbildung gewinnt an Bedeutung (Pigeron-Piroth et al., 2021). Als im Frühjahr 2020 von Deutschland ausgehend kleinere Grenzübergänge zu Frankreich und Luxemburg geschlossen wurden und sich Verkehrsflüsse auf die größeren Übergänge wie die Goldene Bremm konzentrierten, zeugten lange Schlangen an den Grenzen von dieser grenzüberschreitenden Normalität, aber auch von der nicht gegebenen Praktikabilität von Kontrollen. Welche Bedeutung Luxemburg als „Jobmagnet“ hat, war bereits vor der Krise bekannt. Sie hat aber auch für die „breitere Öffentlichkeit“ die knapp 15.000 Grenzgänger:innen ins „Scheinwerferlicht“ gerückt, die täglich ins Saarland einpendeln und dort unter anderem für den Gesundheitsbereich entscheidend sind (vgl. dazu Abbildung 2). Solidaritätsbekundungen und Protestkundgebungen – konzeptionell als Praktiken einer „deborderization“ zu deuten (dazu Wille 2021) – haben vor Augen geführt, dass der gemeinsame Lebensraum, das „bassin de vie“, als Errungenschaft betrachtet und verteidigt wird. Das Treffen der Außenminister Jean Asselborn (Luxemburg) und Heiko Maas (Deutschland) am 16. Mai 2020 auf der Schengener Brücke lässt sich als Symbol dafür werten, dass gewachsene Bande nicht achtlos durchtrennt werden sollen. Auch die saarländische Wirtschaftsministerin „packte“ ganz praktisch mit an, als es bei der Öffnung von Grenzübergangsstellen darum ging, Absperrungen beiseite zu räumen. Der SaarLorLux-Trend des Saarländischen Rundfunks mit Umfragen im Saarland, der Moselle und in Luxemburg im November und Dezember 2020 deutete darauf hin, dass das nachbarschaftliche Verhältnis von einigen Bewohner:innen als angegriffen betrachtet wurde (SR, 2020) und so sensibles Handeln zum „Kitten“ des grenzüberschreitenden Verhältnisses opportun erschien.
Abbildung 2: Grenzpendler:innen in der Großregion (2019). Quelle: IBA | OIE.
Lerneffekte aus der ersten WelleAls im März 2021 die Moselle zum „Virusvariantengebiet“ erklärt wurde, stand die Frage im Raum, was denn nun aus dem Frühjahr 2020 gelernt worden sei. Ganz klar stellte die Pflicht für Grenzgänger:innen, alle 48 Stunden einen neuen Corona-Schnelltest vorweisen zu können, eine logistische Herausforderung dar. Die Verärgerung war hörbar und auch bei Demonstrationen sichtbar. Gleichzeitig wurden Lerneffekte spürbar: Entscheidungsträger:innen wurden frühzeitig über deutsche Maßnahmen informiert. Am Grenzübergang bei Saarbrücken an der Goldenen Bremm wurde ein gemeinsames deutsch-französisches Testzentrum aufgebaut. Statt Kontrollen an den Grenzen wurde auf eine Schleierfahndung im Hinterland gesetzt. Der formelle und informelle grenzüberschreitende Austausch hatte also einen Schub erhalten. Entscheidend dafür waren Impulse, die aus den Erfahrungen der ersten Welle resultierten.
In einem Sachbuch mit dem Fokus auf das deutsch-französische Verhältnis (Weber et al., 2021), das ich zusammen mit Roland Theis und Karl Terrollion im Sommer 2021 als Zwischenbilanz herausgegeben habe, können sich die Leser:innen tiefere Einblicke in die hier nur angerissenen Geschehnisse verschaffen. Wir versammeln darin essayistische Beiträge und Interviews mit Politiker:innen der nationalen bis zur lokalen Ebene im saarländisch-mosellanischen Verflechtungsraum, von Vertreter:innen aus grenzüberschreitenden Initiativen, Wirtschaft, Kultur, Medien sowie der Wissenschaft. Statt eines „Schwarz-Weiß“ entsteht über die mehr als dreißig Buchbeiträge ein weitgreifendes Mosaik vielfältiger Kompartimente, die sich gleichzeitig in ein Gesamtbild der Grenzerfahrungen während der Pandemie zusammenfügen: alle Beitragenden eint der Eindruck, dass der grenzüberschreitende Austausch und die europäische Idee offener Binnengrenzen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfen und die Krise eindrücklich vor Augen führt, dass die Zukunft nur in einem abgestimmten und gemeinsamen Handeln liegen sollte.
Aus Grenzraum- und Multilevel-Governance-Forschungsperspektive gilt mein weiteres Interesse der Systematisierung grenzregionaler Narrative und künftigem politischem und praktischem Handeln, verbunden mit der Frage, inwieweit die zwischenzeitlich formulierten Ansprüche und Zielsetzungen auch in institutionalisierten Formen der grenzüberschreitenden Kooperation münden. Ohne die Relevanz europäischer Außengrenzen und die Diskussionen um das EU-Grenzregime zu schmälern, erscheinen entsprechend europäische Binnengrenzen unter den veränderten Vorzeichen im Zuge der Covid-19-Pandemie als gewinnbringendes Forschungsobjekt, um so auch grundlegende Erkenntnisse über die künftige Europäischen Union und den Schengen-Raum zu generieren.
Florian Weber, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
Referenzen
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Europäische Grenzraumforschung in Zeiten der Vergrenzung (Christian Wille, Universität Luxemburg), 20/06/2021
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„What’s Home Gotta Do With It?” Überlegungen zu Homing, Bordering und Social Distancing in Zeiten von Covid-19 (Astrid M. Fellner, Universität des Saarlandes), 11/06/2020
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Text auf Englisch verfügbar.
Astrid M. Fellner, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
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Grenzgängerbeschäftigung und Grenzschließungen: Das Beispiel der Großregion SaarLorLux (Isabelle Pigeron-Piroth und Estelle Evrard (Universität Luxemburg), Rachid Belkacem (Universität Lothringen)), 08/06/2020
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Text auf Französisch verfügbar.
Isabelle Pigeron-Piroth, UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg
Estelle Evrard, UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg
Rachid Belkacem, UniGR-Center for Border Studies, Universität Lothringen
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Was ist mit unseren Grenzregionen geschehen? Corona, Unvertrautheit und transnationaler Grenzlandaktivismus in der dänisch-deutschen Grenzregion (Martin Klatt, Universität Süddänemark), 04/06/2020
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Text auf Englisch verfügbar.
Martin Klatt, Centre for Border Region Studies, Universität Süddänemark
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COVID-19 im Grenzland von San Diego und Tijuana: zwischen Re-borderingprozessen und widersprüchlichen Wirklichkeiten (Albert Roßmeier, Universität Tübingen/Universität des Saarlandes), 04/06/2020
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Text auf Englisch verfügbar.
Albert Roßmeier, Doktorand, Universität Tübingen/Universität des Saarlandes
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Schließung der nationalen Grenzen: Geschichten in der Grenzregion (Beate Caesar, Nicolas Dorkel, Sylvain Marbehant, Hélène Rouchet, Greta Szendrei), 02/06/2020
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Text auf Französisch verfügbar.
Arbeitsgruppe Raumplanung des l’UniGR-Center for Border Studies:
Beate Caesar, Fachgebiet Internationale Planungssysteme, Technische Universität Kaiserslautern
Nicolas Dorkel, LOTERR – Centre de recherche en géographie, Universität Lothringen
Sylvain Marbehant, LEPUR – Centre de Recherche sur la Ville, le Territoire et le Milieu rural, Universität Lüttich
Hélène Rouchet, LEPUR – Centre de Recherche sur la Ville, le Territoire et le Milieu rural, Universität Lüttich
Greta Szendrei, Department of Geography and Spatial Planning, Universität Luxemburg
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Geflüchtetenunterkünfte und Lager als Grenzparadigma: Lebenswirklichkeiten in Zeiten der Corona-Pandemie (Claudia Böhme und Anett Schmitz, Universität Trier), 02/06/2020
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Das Grenzparadigma „Flüchtlingslager“: Formen neuer Grenzpraktiken
Die globale Ausbreitung des Coronavirus hat eine globale Einschränkung von Mobilität sowie territoriale und soziale Grenzziehungsprozesse (Wille 2020) zur Folge, die überall im öffentlichen Raum sichtbar sind. Neue Grenzen werden gezogen und bestehende verdichtet (Cyrus/Ulrich 2020) (Abb. 1, 2).
Abb. 1: Abgesperrter Spielplatz, Foto: Christoph Dehmelt 2020
Abb. 2: Abstandsmarkierung im Supermarkt, Foto: Sarah Schug 2020
Die Schließung der nationalstaatlichen Grenzen und die Konzentration auf die eigene „Nation“ hat besonders dramatische Folgen für die Lebenswirklichkeit von Migrant*innen und Geflüchteten. Somit rückt die derzeitige Situation die Debatte um nationalstaatliche Grenzschließungen, die EU-Abschottungspolitik an ihren Außengrenzen sowie Geflüchtetenunterkünfte und Lager als Grenzparadigma in den Fokus (Abb. 3).Abb. 3: Graffiti in der Nähe des Trierer Hauptbahnhofs, Foto: Julia Binder 2020
Wenngleich die politische und mediale Aufmerksamkeit in der EU auf der Bewältigung der Pandemie und den Schutz der „Risikogruppen“ in den eigenen Ländern gerichtet ist, droht die Lage geflüchteter Menschen an den Außengrenzen der EU aus dem Blick zu geraten. Das Paradigma „Lager“ stellt mit der räumlichen und sozialen Separation der Bewohner*innen von der einheimischen Gesellschaft eine Grenzpraxis dar. Diese geht mit einer umfassenden Kontrolle über die Teilhabe an gesellschaftlichen Systemen und Exklusion vom Arbeitsmarkt, regulären Gesundheitswesen und Wohnungsmarkt einher. Die Integration in die Gesellschaft und der Kontakt zur ortsansässigen Bevölkerung bleiben begrenzt (Schmitz/Schönhuth 2020, 48).
Als ambivalente Grenzräume sind Geflüchtetenunterkünfte jedoch auch dynamische und aktive Räume, in denen die Bewohner*innen „Kultur“, „Heimat“ und „Zugehörigkeit“ schaffen, aushandeln und transformieren, um sich ein (wenn auch) vorläufiges zu Hause zu schaffen. Sie etablieren formalisierte und informelle Unterstützungsstrukturen und Netzwerke, Formen der Agency (Schmitz/Schönhuth 2020, 49). Als „quasi totale Institutionen“ (ebd.) sind diese Unterkunftsformen aber auch durch ihre strukturell und institutionell bedingten Konflikt- und Gewaltsituationen gekennzeichnet, die im Zuge der Pandemie weiter verschärft werden.
Geflüchtetenunterkünfte in Deutschland
Wie wir durch unsere lange Feldforschung vor und während der Pandemie in unterschiedlichen Geflüchtetenunterkünften beobachten konnten, teilen Geflüchtete nicht selten ein 12-14 qm Mehrbettzimmer mit mehreren Personen (Schönhuth/Schmitz/Böhme 2019). Unter solchen Bedingungen ist eine physische Distanzhaltung unmöglich. Die gemeinsame Nutzung von Küchen und Waschräumen und die zeitlich festgelegte Essensausgabe und Duschmöglichkeiten führen zwangsweise zum Kontakt mit anderen. Die Reaktion der Betreibenden von Geflüchtetenunterkünften auf das Coronavirus zeigt sich in der Manifestation neuer Grenzpraktiken: innerhalb der Unterkünfte werden Grenzen verschoben, verdichtet und neu markiert. Durch (un-)sichtbare Grenzmarkierungen wird auch eine neue soziale Wirklichkeit in den Unterkünften geschaffen. Der ohnehin reglementierte Alltag der Bewohner*innen erfährt noch mehr Kontrolle. Neue sichtbare Grenzen sind „Separationsräume“ für Ansteckungsfälle oder durch Absperrgitter abgeriegelte Bereiche für die Quarantäne von Neuankömmlingen. Freizeiträume werden geschlossen und -angebote gestrichen. Durch Abstandsmarkierungen werden die Grenzen zwischen Personal und Bewohner*innen neu definiert. Auch führt dies zu verstärkter sozialer Kontrolle und Misstrauen zwischen den Bewohner*innen aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus. Dies führt zu neuen Konfliktfeldern und sozialen Grenzziehungsprozessen zwischen denjenigen, die die neuen Regeln akzeptieren oder ablehnen.
Die schwierige Lage und Perspektive der Bewohner*innen dringen nur selten an die Öffentlichkeit. Es fehlt an Atemschutzmasken, Handschuhen, Desinfektionsmittel und Seife (Riese et al. 2020a). Geflüchtete klagen auch über fehlende Informationen über das Virus und Maßnahmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen sowie über eine unsensible Behandlung durch das Sicherheitspersonal (z.B. Süddeutsche Zeitung 2020). Proteste und Konflikte mit Sicherheitsdiensten nehmen zu (Riese 2020b). Im Mai 2020 werden immer mehr Geflüchtetenunterkünfte unter Quarantäne gestellt, da immer mehr COVID-19 Fälle auftreten (MiGAZIN 2020), was gefühlte Machtlosigkeit und Isolation bei den Bewohner*innen verstärkt.
Die Verwaltungen der Unterkünfte stehen vor der Herausforderung, ob und wie das Zusammenleben vor dem Hintergrund der Pandemie in einer Massenunterkunft sicher gestaltet werden kann. Eine dezentrale Unterbringung – etwa in Freizeitheimen – wird zwar für einzelne Infizierte oder für Vulnerable veranlasst, aber nicht bundesweit und für alle Betroffenen umgesetzt (z.B. Stieber 2020). Bestehende Schutzkonzepte, wie sie im Rahmen der Initiative „Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ (BMFSFJ/UNICEF 2018) entwickelt wurden, stoßen während der Pandemie an ihre Grenzen.
Das Lager „Moria“ auf Lesbos
Die Grenzschließung durch die Pandemie verschärft besonders die Lebensbedingungen für die Geflüchteten an den Hotspots und Lagern in Nordafrika und am Mittelmeer. Notwendige Evakuierungsmaßnahmen werden eingestellt und Häfen für die Anlandung von Rettungsschiffen geschlossen. Durch die mediale und politische Konzentration auf die „eigene Krise“ drohen die bestehenden Krisen der Migrant*innen aus dem Blick zu geraten. Es sind vor allem zivilgesellschaftliche Allianzen, die auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen durch die Pandemie in Lagern wie auf den griechischen Inseln aufmerksam machen und die EU zum Handeln auffordern (AG Migration u.a. 2020; Ziegler 2020). Die Kampagne #LeaveNoOneBehind fordert eine sofortige Evakuierung der Lager.
Im Mai 2020 ist jedoch noch keine Verbesserung der Lebensumstände an den durch das Grenzregime geschaffenen Zwischenorten in Sicht. Hierbei gilt das Lager „Moria“ auf der Insel Lesbos mit einer Aufnahmekapazität von 3.000 Geflüchteten bei derzeit ca. 20.0000 dort lebenden Menschen bereits als „Schande Europas“ (Ziegler 2020). Das ehemalige Militärlager ist durch hohe Metallzäune abgegrenzt, jedoch leben viele Geflüchtete inzwischen in slumähnlichen Behausungen in den Olivenhainen außerhalb der Einzäunung. Die Menschen leben in Containern, Zelten oder in selbst errichteten Behausungen. Eine Versorgung mit ausreichender Nahrung und Trinkwasser, Medizin, sanitären Anlagen, Müllentsorgung und sicherem Wohnraum ist nicht gewährleistet. Streit, gewaltsame Konflikte (auch mit Todesfolge), Brände und sexuelle sowie rassistische Übergriffe führen zu einer existenzbedrohenden Situation (Backhaus 2020; Ziegler 2020).
Soziale Distanzierung ist unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich; Quarantänemaßnahmen sind vor dem Hintergrund nur eines Krankenhauses nicht durchführbar.
Zwischenzeitlich sind im Lager „Moria“ erste COVID-19-Fälle nachgewiesen, was besonders die allgemeine medizinische Versorgung behindert. Noch vor der Pandemie hatten sich acht EU-Staaten bereit erklärt, 1.600 besonders gefährdete Kinder und Jugendliche von den griechischen Inseln nach Europa zu holen; dieses Vorhaben wurde durch die Grenzschließungen im Zuge der Pandemie jedoch verschoben. Im April 2020 nahm Deutschland schließlich 47 und Luxemburg zwölf Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre auf (NDR 2020). Während Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ und zivile Akteur*innen eine vollständige Räumung des Lagers fordern, werden bisher nur ausgewählte ältere Menschen und Familien auf das griechische Festland gebracht. Neu ankommende Menschen werden Medienberichten zufolge vierzehn Tage im Norden der Insel unter Quarantäne gestellt (Bormann 2020). Bewohner*innen von Moria melden sich im Mai 2020 bereits zum zweiten Mal in einem Aufruf zu Wort und fordern Unterstützung seitens der EU, der Regierungen der europäischen Länder und der Zivilgesellschaft (Moria Camp 2020).
„Kakuma Refugee Camp“ und „Kalobeyei Settlement“ in KeniaEin weiteres Grenzparadigma ist das „Kakuma Refugee Camp“ und „Kalobeyei Integrated Settlement“ in Kenia, das Claudia Böhme besucht und Gespräche mit Bewohner*innen geführt hat (Böhme 2019). Mit einer Bevölkerung von inzwischen fast 200.000 Menschen (März 2020) aus über 20 Ländern mit vielfältigen politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen gleicht das Lager eher einer „unbeabsichtigten Stadt“ (Jansen 2018).
Das Geflüchtetenlager liegt marginalisiert im Nordwesten Kenias ca. 130 km zur Grenze des Südsudan in einer Gegend mit extremen klimatischen Bedingungen (UNHCR Kenia 2018). Die Mehrheit der lokalen Bevölkerung sind Turkana, Rindernomaden, die ebenfalls nur erschwert Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen haben. Dies führt zu gewaltsamen Konflikten mit benachbarten Gruppen und einer angespannten Beziehung mit den Campbewohner*innen (Aukot 2003, 74; Böhme 2019; Jansen 2016).
Das Leben im „Kakuma Refugee Camp“ ist geprägt von der Hoffnung auf ein Leben jenseits der Grenzen des Lagers, welches die Teilnahme an einem Resettlement-Programm nach Übersee verspricht (Jansen 2018). Doch Mitte März wurden aufgrund der Coronakrise alle Resettlement-Maßnahmen gestoppt. So platzte auch der Traum für die Somalierin Jamilah, die mit ihren beiden Töchtern im Lager lebt und eine Chance für eine Aufnahme in Deutschland hatte (Böhme 2020). Am 20. März wurde von einem ersten COVID-19-Fall in der Nähe des Lagers berichtet. Sicherheitskräfte hatten einen aus den USA zurückgekehrten Somalier auf seiner Fahrt nach Kakuma angehalten, er zeigte Symptome des Virus (Lutta 2020). Seither versucht Jamilah mit ihren beiden Töchtern, eine von ihnen hat Asthma, in ihrem kleinen Compound zu bleiben. Ihre ehemalige Campmitbewohnerin Fazilah aus dem Südsudan, die im Lager geboren wurde, teilt ihre Sorgen um die Gesundheit der Bewohner*innen auf Facebook sowie einen Spendenaufruf für sanitäre Artikel. Ein Post auf ihrer Facebookseite zeigt, wie mangelnden Hygienemaßnahmen mit Kreativität begegnet wird (Abb. 4).
Abb. 4: Brando Atiol, Ein junger Schüler (6. Klasse) der Jebel Marra Primary School im Kakuma Refugee Camp wäscht seine Hände an einem Kanister, den er mit darüber installierter Seife zum Wasserhahn umfunktioniert hat; Fotograf: Okello Joseph 2020
Abb. 5: Bewohner*innen von Kakuma üben sich in Social Distancing während sie auf ihre Essensrationen warten; Foto: UNHCR/Otieno 2020 (https://www.unhcr.org/news/briefing/2020/4/5e8c28c44/unhcr-stepping-coronavirus-prevention-measures-displaced-across-east-horn.html)
Am 24. März berichtet ein Radiosender, wie die muslimischen Bewohner*innen gegen die Ausbreitung des Virus beten (REF FM Community Radio 2020). Schulen und soziale Einrichtungen wurden geschlossen, die Bewohner*innen sind aufgefordert, in ihren begrenzten Unterkünften zu bleiben, da von 19 Uhr bis neun Uhr die nationale Ausgangssperre gilt. Der COVID-Lockdown verursacht Lieferengpässe für Essen und medizinische Artikel für das Lager (Rodgers 2020). Erste Sicherheitsmaßnahmen werden eingeleitet (UNHCR 2020) (Abb. 5).
Am 25. Mai wurde das Lager aufgrund eines COVID-19 Falles unter den Bewohner*innen für die Aus- und Einreise geschlossen (Nation TV, News 9pm 25.05.2020).
Post-Corona: Auflösung von Grenzparadigmen?
Unsere Ausführungen in diesem Beitrag zeigen, inwiefern dem Grenzparadigma des „Flüchtlingslagers“ im Zuge der Pandemie eine weitere Dimension hinzugefügt wird. Das ohnehin am gesellschaftlichen Rand positionierte „Lager“, das durch räumlich beengtes Zusammenleben, soziale Grenzziehungen, Konflikte und fehlende Zukunftsperspektiven gekennzeichnet ist, findet in den gängigen nationalstaatlichen Schutzdebatten rund um die Pandemie nicht ausreichend Berücksichtigung. Die ohnehin marginalisierte Lebenslage der Geflüchteten wird somit gegenwärtig verstärkt und wirft einmal mehr die Frage auf, wie die Lebenslagen der Betreffenden grundlegend verändert werden könnten. Dies berührt Fragen zum Umgang mit globaler Ungleichheit und bedarf weiterführender Überlegungen und Forschung dazu, wie Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und Lebenslage vor globalen Notlagen geschützt werden können. Die Corona-Pandemie kann somit eine Chance bieten, die bestehenden Schutzkonzepte zu überdenken und alternative Unterbringungsformen zu erproben.
Claudia Böhme, Abteilung Soziologie/Ethnologie, Universität Trier
Anett Schmitz, Abteilung Soziologie/Ethnologie, Universität Trier
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Aukot, Ekuru (2003), „It Is Better to Be a Refugee Than a Turkana in Kakuma”: Revisiting the Relationship between Hosts and Refugees in Kenya. Refuge: Canada's Journal on Refugees, 21 (3), 73–83.
Backhaus, Andrea (2020), »Moria ist die Hölle«, Zeit Online, 27.3.2020, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/lesbos-fluechtlingslager-moria-griechenland-gefluechtete, Abruf: 12.5.2020.
BMFSFJ/UNICEF (2018), „Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/mindeststandards-zum-schutz-von-gefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenften/117474, Abruf: 28.5.2020.
Böhme, Claudia (2019), “The Illusion of Being a Free Spirit” – Mobile Phones and Social Media in Transit Places of Migration with the Example of the Kakuma Refugee Camp in Kenya, Stichproben-Vienna journal of African studies, 36 (19), 51–74.
Bormann, Thomas (2020), Corona-Gefahr auf Lesbos. Masken für Moria, Tagesschau Online, 7.4.2020, https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-lesbos-corona-101.html, Abruf: 12.5.2020.
Cyrus, Norbert; Ulrich, Peter (2020), Das Corona-Virus und die Grenzforschung: in: Grenzen und Ordnungen in Bewegung in Zeiten der Corona-Krise. Analysen zu Region und Gesellschaft. Ein Blog des Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, https://bordersinmotion-coronablog.com, Abruf: 28.5.2020
Jansen, Bram J. (2016), The Refugee Camp as Warscape: Violent Cosmologies, Rebelization, and Humanitarian Governance in Kakuma, Kenya, Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development, 7 (3), 429–441.
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Lutta, Sammy (2020), Covid-19 scare: four isolated at Kakuma camp, Daily Nation Online, 20.3.2020, https://www.nation.co.ke/counties/turkana/Covid-19-scare-Kakuma-refugees-isolated-Turkana-hospital/1183330-5498006-vrokkt/index.html, Abruf: 12.5.2020.
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Riese, Dinah (2020b), Protest in Flüchtlingsunterkunft. Aufbegehren gegen Quarantäne, taz Online, 5.4.2020, https://taz.de/Protest-in-Fluechtlingsunterkunft/!5673607/, Abruf: 12.5.2020.
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Schmitz, Anett; Schönhuth, Michael (2020), Zwischen Macht, Ohnmacht und Agency: Beschwerdemanagement für Geflüchtete, Zeitschrift Migration und Soziale Arbeit, (1), 46-56.
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Stieber, Benno (2020), Flüchtlingsunterkünfte in Quarantäne. »Sie fühlen sich abgeschnitten«, taz Online, 15.4.2020, https://taz.de/Fluechtlingsunterkuenfte-in-Quarantaene/!5678995/, Abruf: 12.5.2020.
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UNHCR Kenia (2020), Kakuma Refugee Camp and Kalobeyei Integrated Settlement. https://www.unhcr.org/ke/kakuma-refugee-camp, Abruf: 13.5.2020.
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Wille, Christian (2020), Borders in Times of Covid-19 / Grenzen in Zeiten von Covid-19. BorderObs, UniGR-Center for Border Studies, http://BorderObs.BorderStudies.org, Abruf: 28.05.2020.
Ziegler, Jean (2020), Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. München: C. Bertelsmann.
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Coronavirus, Grenzschließungen und Ernährungssicherheit: Beobachtungen in Jamaika (Lisa Johnson, Universität Trier), 14/05/20
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Text auf Englisch verfügbar.
Lisa Johnson, IRTG Diversity: Mediating Difference in Transcultural Spaces, Universität Trier
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Chroniken lebender Grenzen: Der gemeinsame Stadtraum von Gorizia (IT) und Nova Gorica (SLO) (Svetlana Buko, DOBA Business School), 07/05/20
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Text auf Englisch verfügbar.
Svetlana Buko, associate professor (docent) of intercultural management, DOBA Business School, Slowenien.
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Die Immobilisierten sind die mobilsten! (Anne-Laure Amilhat Szary, Université de Grenoble-Alpes), 28/04/20
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Text auf Französisch und Englisch verfügbar.
Anne-Laure Amilhat Szary, Pacte – laboratoire de sciences sociales, Université de Grenoble-Alpes
- Einseitige Mehrsprachigkeit an der geschlossenen Grenze im Saar-Lor-Lux-Raum (Philipp Krämer, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder), 20/04/20
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Die Mehrsprachigkeit, die sich das Saarland als Markenzeichen im Reigen der Bundesländer und als Ziel der Frankreichstrategie gewählt hat, spielt nicht nur in ruhigen Zeiten eine Rolle, beispielsweise als Öl im ökonomischen Getriebe. Auch in Krisen wie etwa der Corona-Pandemie erfüllen mehrsprachige Kompetenzen eine ganz zentrale Funktion. Dies ist unmittelbar sichtbar bei der Behandlung von Patient*innen aus Frankreich, die in saarländischen Krankenhäusern aufgenommen wurden. Beim Gespräch mit den Erkrankten, ihren Angehörigen und den zuvor behandelnden Kliniken über Vorerkrankungen, Medikation oder den Patientenwillen können im Ernstfall die Sprachkenntnisse des medizinischen Personals lebensrettend wirken (s. auch Funk 2017 zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung). Daneben kommt vor allem der Krisenkommunikation der Politik wichtige Bedeutung zu. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist hier nicht nur relevant, was genau kommuniziert wird, sondern auch wie kommuniziert wird – beispielsweise welche sprachlichen Mittel im grenzüberschreitenden Kontext gewählt werden.
Sporadisches Krisenfranzösisch im Saarland
Die einseitige Schließung der deutschen Grenzen zu Frankreich und Luxemburg hat scharfe Kritik und spürbare Verstimmungen im nachbarschaftlichen Verhältnis verursacht. Es lohnt sich, genauer zu betrachten, wie die Politik im Saarland und in der Nachbarschaft hierauf sprachlich reagiert haben. Anhaltspunkte für die sprachliche Kommunikationspolitik bieten die klassischen und die sozialen Medien. Bei ihrer Durchsicht fällt auf, dass aus der saarländischen Landespolitik in diesem Zusammenhang nur sporadisch Äußerungen auf Französisch hör- und sichtbar waren. Im lokalen lothringischen Fernsehsender Mosaïk Cristal wurde Europa-Staatssekretär Roland Theis interviewt, der hauptsächlich auf die Verantwortung der Bundespolitik verwies und auf die Stimmung bei den Menschen im Grenzgebiet wenig einging. Annegret Kramp-Karrenbauer gab im französischen Radiosender Europe 1 ein Interview auf Französisch in ihrer Funktion als CDU-Vorsitzende und Bundesverteidigungsministerin; die regionale Dimension streifte das Interview nur am Rande. Viel Aufmerksamkeit und Anerkennung erhielt ein gemeinsames Video zahlreicher Bürgermeister*innen mit Botschaften an die Partnergemeinden in Frankreich, die überwiegend auf Französisch eingesprochen wurden. Der Erfolg dieser Initiative aus der Kommunalpolitik beruhte maßgeblich auf der Wahl der Sprache: Viele Reaktionen aus dem frankophonen Raum hoben genau diesen Aspekt hervor. Das führte jedoch nicht dazu, dass auf Landesebene eine ähnliche Sprach- und Kommunikationsstrategie mit direkter Ansprache der Menschen in Frankreich auf Französisch gewählt wurde.
Einsprachige Botschaften auf Deutsch an die Nachbarregion
Ministerpräsident Tobias Hans sendete von seinem persönlichen Twitter-Account einen einzigen französischen Tweet, in dem die Aufnahme von Covid19-Erkrankten aus Frankreich im Saarland angekündigt wurde (vgl. Abb.1). Die Reaktionen des Regierungschefs auf die Auswirkungen der geschlossenen Grenzen waren in allen Medien ausschließlich auf Deutsch. Der Austausch mit der französischen Seite fand über politische Vertreter*innen statt. Der Ministerpräsident wandte sich nicht unmittelbar an die Bevölkerung der Nachbarländer, weder in den sozialen noch in den redaktionellen Medien. Dies taten hingegen Vize-Ministerpräsidentin Anke Rehlinger und Bundesaußenminister Heiko Maas, als sie sich für die Angriffe auf Menschen aus Frankreich entschuldigten (nicht aber für die zahlreichen Enttäuschungen und Verletzungen, die aus der Grenzschließung an sich entstanden). Beide Entschuldigungen wurden ebenfalls nur auf Deutsch vorgetragen, mündlich und als Posts in sozialen Medien (vgl. Abb.2).
Abb.1: Tweet von Tobias Hans, die bislang einzige persönliche Äußerung auf Französisch im Zusammenhang mit der Corona-Krise
Abb. 2: Tweet von Anke Rehlinger mit Entschuldigung für Angriffe auf Menschen aus FrankreichDie sprachliche Vermittlung der Botschaften aus der saarländischen Politik oblag damit hauptsächlich den französischen Medien, die für das frankophone Publikum die Äußerungen übersetzten und zugänglich machen. Bildlich gesprochen hat die saarländische Politik die Entschuldigung wie ein Paket vor sich abgestellt und es dem Gegenüber überlassen, es abzuholen. Die Wahl der Sprache hat hier weitaus mehr als nur einen praktischen Wert. Für die interkulturelle Verständigung – gerade, wenn Verstimmungen ausgeräumt werden müssen – kann es äußerst hilfreich sein, wenn man selbst die Sprachgrenze überschreitet und die Botschaft ohne weiteren Vermittlungsschritt überbringt. Das klar sichtbare Bemühen um Entgegenkommen, durchaus auch mit Akzent oder Fehlern, kann Aufrichtigkeit und Authentizität hervorheben. Ausgerechnet in einem Moment, in dem die deutsch-französischen und deutsch-luxemburgischen Beziehungen einen Rückschlag erlebten, zeigte die saarländische Politik im wahrsten Sinne des Wortes eine auffällige Sprachlosigkeit.
Entgegenkommen auf Deutsch aus Frankreich: Mehrsprachigkeit mit Schlagseite
Wie sieht es in umgekehrter Kommunikationsrichtung aus? Zahlreiche Vertreter*innen aus den Nachbarregionen äußerten sich auf Deutsch zur Grenzproblematik und allgemein zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Kaum zählbar ist die Anzahl der deutschsprachigen Äußerungen des lothringischen Parlamentsabgeordneten Christophe Arend. Deutsche Tweets und Facebook-Postings veröffentlichten wiederholt beispielsweise die Präsidentin des Conseil général im Département Haut-Rhin, Brigitte Klinkert, oder der Präsident der Region Grand Est, Jean Rottner (vgl. Abb. 3a und 3b).
Abb. 3a und 3b: Deutschsprachige Tweets von Jean Rottner mit Dank an den saarländischen MinisterpräsidentenAuffällig ist dabei, dass ein sehr großer Anteil dieser Botschaften auf Deutsch darauf entfällt, der deutschen Seite Dank auszusprechen. Im Zusammenspiel mit der weitestgehend einsprachig deutschen Kommunikation in der saarländischen Politik entsteht so ein problematisches Ungleichgewicht, das im ungünstigsten Fall hierarchisch gelesen werden kann. Frankreich, das besonders unter der Pandemie leidet und an einigen Stellen auf Hilfe aus Deutschland angewiesen war, zeigte zugleich auch im sprachlichen Entgegenkommen seine Dankbarkeit. Die saarländische Seite, im aktuellen Fall durch die etwas geringere Belastung des Gesundheitswesens in einer komfortableren Situation, erwiderte dies kaum durch eigene sprachliche Annäherung.
Die Sprachnutzung im Grenzraum erhielt in der Krisenkommunikation ein erhebliches Ungleichgewicht. Die saarländische Politik hätte die Gelegenheit gehabt, in dieser kritischen Lage die sprachlichen Aspekte ihrer Frankreichstrategie selbst umzusetzen und für ein wichtiges Anliegen heranzuziehen. Stattdessen spiegelt sich die einseitige Grenzschließung in einer ebenso einseitigen Mehrsprachigkeit.
Stand des Textes ist der 18.04.2020; etwaige später folgende Kommunikationsschritte in der Politik konnten hier also nicht berücksichtigt werden.
Philipp Krämer, Viadrina-Center B/ORDERS IN MOTION, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder
Referenzen
Funk, Ines (2017): Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im Grenzraum Saarland-Lothringen: Aktueller Stand, Herausforderungen und Potenziale. In: Lüsebrink Hans-Jürgen / Polzin-Haumann, Claudia / Vatter, Christoph (Hg.): »Alles Frankreich oder was?« – Die saarländische Frankreichstrategie im europäischen Kontext. Bielefeld, transcript. 177–191.
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Die deutsch-französische Grenze in Zeiten von Covid-19: Ende eines gemeinsamen Gebiets? (F. Berrod, B. Wassenberg, M. Chovet, Universität Straßburg), 20/04/20
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Text auf Französisch verfügbar.
Frédérique Berrod, Sciences Po, Universität Straßburg
Birte Wassenberg, Sciences Po, Universität Straßburg
Morgane Chovet, Droit de l'Union européenne, Universität Straßburg
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Keine Grenzüberschreitungen: Empfehlung oder Verbot? (Martin Unfried, Universität Maastricht), 16/04/20
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Text auf Englisch verfügbar.
Martin Unfried, Institute for Transnational and Euregional cross border cooperation and Mobility, Universität Maastricht
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Sprachliches Rebordering: Die Konstruktion von COVID-19 als Bedrohung von außen (Eva Nossem, Universität des Saarlandes), 09/04/20
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Text auf Englisch verfügbar.
Eva Nossem, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
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Corona – neue Herausforderungen und Perspektiven für Grenzraumpolitiken und grenzüberschreitende Governance (Nora Crossey, Universität des Saarlandes), 08/04/20
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Hintergrund der Einordnung – die Frankreichstrategie des Saarlandes
Im Jahr 2014 verkündete die saarländische Landesregierung mit großer Resonanz die sogenannte Frankreichstrategie des Saarlandes, die die „historisch gewachsene und in den letzten Jahrzehnten mit großen Anstrengungen ausgebaute Frankreichkompetenz“ (Landesregierung des Saarlandes 2014, S. 1) des Saarlandes ausbauen und zu Nutze machen möchte. In den kommenden Jahr(zehnt)en sollen im Rahmen dieser Frankreichstrategie funktionale Sprachkenntnisse des Nachbarlandes, aber auch eine (variierende) Bandbreite an institutionellen Kooperationen und Kooperationsprojekten insbesondere mit dem Nachbar-département Moselle, gefördert werden. Ziel ist die Schaffung eines „mehrsprachige[n] Raum[es] deutsch-französischer Prägung“ (Landesregierung des Saarlandes 2014, S. 4), der kulturell und politisch, insbesondere aber auch wirtschaftlich vom Abbau sprachlicher wie wirtschaftlicher und kultureller Grenzziehungen profitieren soll. In der Umsetzung der Frankreichstrategie und im Hinblick auf ihren langfristigen Erfolg kommt hierbei der Bevölkerung wie auch Akteur*innen auf kommunaler Ebene eine tragende Rolle zu – sie sollen langfristig die Bemühungen des Saarlandes, sich sprachlich wie kulturell auf seine Nachbarländer einzustellen, mit Leben füllen. In meiner Forschung befasse ich mich daher derzeit ausgehend von der Frankreichstrategie mit dem Zusammenspiel zwischen diesen Kooperationen sowie der Konstruktion und Konstituierung von ‚borderlands‘ – hier verstanden als grenzüberschreitende Räume, in denen Realitäten des Grenzraumes alltäglich diskursiv wie praktisch (re)produziert und verhandelt werden. Stark vereinfach gesagt: Wo und wie findet grenzüberschreitende Governance statt, welche Grenzziehungen gehen hiermit einher und welche Impulse können durch ‚border policies‘ wie die Frankreichstrategie gesetzt werden?
Aktuelle Einordnung – Grenzen, Grenzziehungen und Gegenbewegungen
Die Entscheidung des Bundesinnenministeriums, ab dem 16. März 2020 Grenzkontrollen an den saarländischen Grenzen durchzuführen und andere Grenzübergänge ganz zu schließen, mag zu dem Zeitpunkt sinnvoll und in einem gewissen Maße nachvollziehbar gewesen sein. Zum einen wird die angrenzende Region Grand Est weiterhin durch das Robert Koch-Institut (RKI) als Hochrisikogebiet eingestuft, zum anderen ist es nachvollziehbar, dass angesichts einer solchen bisher unbekannten Herausforderung lieber eine Vorsichtsmaßnahme zu viel als eine zu wenig getroffen wird – ‚better safe than sorry‘. Dennoch irritiert dieser reflexhaft anmutende Rückzug ins Nationale mit einem fortgeführten Beharren auf Grenzkontrollen bei einem Bundesland, das sich zum Ziel gesetzt hat, „das französischste aller Bundesländer“ (Landesregierung des Saarlandes 2014, S. 3) zu werden. Verschärft wird die Skepsis, wenn von Landespolitiker*innen in der Begründung der fortgeführten Grenzkontrollen in ihrer Form bedenkliche Grenzziehungen anscheinend vor fachlichen Überlegungen herangezogen werden – so argumentiert der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU): „Ich mag mir nicht vorstellen, was wäre, wenn all diese Menschen zu uns gekommen wären. […]. Was nutzt eine Ausgangssperre, wenn tausende Menschen illegal zu uns kommen wollen“ („Bouillon verteidigt Grenzschließungen“, 6. April 2020). Ein Parteikollege bemängelt, dass die Kontrollen der Ausgangsbeschränkung in Frankreich selbst nicht ausreichend („Saar-SPD: Landtag soll in Krise mehr kontrollieren", 6. April 2020). Auch wenn Bouillon von Seiten der Staatskanzlei des Saarlandes in den vergangenen Tagen „zurückgepfiffen“ wurde („Wie Innenminister Bouillon im Saarland an seine Grenzen stößt“, 6. April 2020), werfen diese Differenzierung zwischen einem sicheren und geordneten ‚Hier‘ und ‚Wir‘ auf der deutschen Seite der Grenze und einem unsicheren, ungeordneten und somit für ‚uns‘ gefährlichen ‚Anderen‘ auf der französischen Seite Fragen auf, die es in den kommenden Wochen und Monaten von politischer wie wissenschaftlicher Seite zu adressieren gilt. Auch von französischer Seite wurde Unmut über das deutsche ‚Abschotten‘ deutlich.
Aller Sorge und Erschrockenheit über das Zutagetreten der oben angeführten Grenz(ziehung)en zum Trotz – oder möglicherweise als Replik hierauf – lässt sich eine sukzessive Mobilisierung einer Bandbreite von saarländischen und lothringischen Akteur*innen beobachten, die die Verbundenheit der beiden Regionen auch in Krisenzeiten symbolisch wie praktisch bekräftigen (möchten). Genannt seien hier stellvertretend:
- 22. März: Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) in Absprache mit seinem französischen Amtskollegen Jean Rottner gibt bekannt, den Kapazitäten entsprechend Betten für französische Notfallpatient*innen in saarländischen Krankenhäusern zu Verfügung zu stellen.
- 2. April: Die Veröffentlichung einer „Solidaritätserklärung“ saarländischer Bürgermeister*innen via YouTube, in der die Bürgermeister*innen (überwiegend auf Französisch) ihre Verbundenheit und Solidarität mit ihren französischen Partnergemeinden in Krisenzeiten bekräftigten und die Notwendigkeit einer starken deutsch-französischen Freundschaft betonen.
- 2. April: Die Öffnung des zuvor geschlossenen Grenzüberganges zwischen den Gemeinden Großrosseln und Petite-Roselle (für Berufspendler, Warenverkehr, Fußgänger und Radfahrer) nach einem Aufruf des saarländischen Ministeriums für Europa und Finanzen an das Bundesinnenministerium.
- 6. April: Ein Aufruf zu einer gemeinsamen deutsch-französischen Initiative „Gemeinsam gegen Corona / Ensemble contre le Coronavirus“ von zwei Mitgliedern des Deutsch-Französischen Parlamentarierrates – Andreas Jung, MdB, und Christophe Arend aus dem département Moselle.
Es zeichnet sich also derzeit eine zunehmende Mobilisierung von regionalen, in Teilen grenzüberschreitenden Netzwerken ab, die im Rahmen ihrer Kapazitäten bzw. ihrem Wirkungsraum entsprechend dem Rückzug ins Nationale entgegenwirken möchten – u.a. mit Rückbezügen auf die gewachsene deutsch-französische Freundschaft im Herzen Europas. Symbolische und praktische Akte fließen hierbei ineinander über – so mag beispielsweise die Aufnahme von französischen Notfallpatient*innen durchaus Krankenhäuser in Grand Est entlasten, gleichzeitig kommt ihr insbesondere angesichts des derzeit anscheinend erschütterten Vertrauens in die tatsächliche Belastbarkeit der deutsch-französischen Partnerschaft eine hohe symbolische Tragweite zu.
Abb. 1: Grenzschließung des grenzüberschreitenden Saarradwegs (Aufnahme: Peter Dörrenbächer, April 2020)
Neue Fragen nach Corona
Vor dem Hintergrund der eingangs vorgestellten Frankreichstrategie scheint aus Grenzforschungsperspektive hier insbesondere interessant, wie sich diese Netzwerke über verschiedene Ebenen vielschichtig ‚aufspannen‘ und welche Möglichkeiten hier den jeweiligen Akteur*innen dies- und jenseits der nationalstaatlichen Grenze zukommen (können). Viele Akteure scheinen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ‚ihren Teil‘ zur grenzüberschreitenden Freundschaft auch in Krisenzeiten beitragen zu wollen – aber wie sieht dieser Rahmen für die jeweiligen Akteur*innen in der Grenzregion tatsächlich aus? Inwiefern bestehen oder entstehen grenzüberschreitende Netzwerke, auf die regionale und kommunale Akteur*innen in der Vertretung ihrer Interessen bauen können? Insbesondere mit Blick auf eine mögliche konzertierte Stellungnahme oder einen gemeinsamen Handlungsleitfaden des Saarlandes und des département Moselle als direktem französischen Nachbarn, dessen Bevölkerung unmittelbar von den Grenzkontrollen betroffen ist, scheint hier – von außen betrachtet – derzeit noch eine gewisse Lücke zu bestehen.
Um nicht auf dieser deskriptiven Ebene zu verharren, bedarf es in einer späteren Betrachtung – sozusagen ‚Post-Corona‘ – einer weitergehenden Reflexion unserer normativen Maßstäbe für Governance-Netzwerke. Welche Maßstäbe können wir ansetzen, um aus der Krise, die die derzeitige Situation für die grenzüberschreitenden Beziehungen darstellt, Lehren zu ziehen? Häufig werden Governance-Netzwerke hinsichtlich ihrer Effizienz und Effektivität, oder auch dem Maß an Partizipation analysiert und bewertet. Denkbar erscheint mir im Falle von grenzüberschreitender Governance Post-Corona u.a. eine Betrachtung unter dem Zeichen der Resilienz. Es ist davon auszugehen, dass Krisen ähnlichen Ausmaßes in Zukunft wiederkehren können und mit einer erneuten Manifestierung von überholt geglaubten Grenzziehungen einhergehen. Um in solchen Situationen einem reflexhaften Rückzug ins Nationale entgegenzuwirken, gilt es, effiziente, abgestimmte und erprobte Netzwerke aufzubauen, die auch im Krisenmanagement grenzüberschreitend denken und handeln. Dies gilt es vor dem Hintergrund divergierender Verhältnisse zwischen kommunalen, regionalen und nationalen Akteuren zu bedenken.
Weiterhin tritt durch die oben angeführten diskursiven Grenzziehungen zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ unschön deutlich zutage, wie verbreitet in Teilen der Bevölkerung das Denken in nationalen Kategorien noch ist – auch im Saarland, das doch sonst gerne seine kulturelle, kulinarische und wirtschaftliche Nähe zu Frankreich bekräftigt. Auch hieraus können vor dem Hintergrund der Frankreichstrategie Lehren gezogen werden, die mit der Vertiefung grenzüberschreitender Verflechtungen einhergehen können. So scheint im Blick über die Grenze insbesondere das Bild der französischen Grenzbevölkerung als wertvolle Arbeitskräfte für saarländische Unternehmen präsent zu sein, das auch in der Frankreichstrategie betont wird – dieses ‚wirtschaftliche Framing‘ ist anscheinend jedoch nicht ausreichend, um die Entstehung einer regionalen grenzüberschreitenden Solidargemeinschaft zu befördern, die auch in schlechten Zeiten als Partner agiert. Auch die Frankreichstrategie argumentiert primär entlang dieser regionalen wirtschaftlichen Interessen – eine Erweiterung der Frankreichstrategie um Zielsetzungen, die auf eine stabile Solidargemeinschaft abheben, wäre denkbar und zu erörtern. Akteur*innen, die die deutsch-französische Partnerschaft direkt vor Ort leben und stärken wollen und auch können, gibt es in großer Zahl – auch das zeigt sich in der Krise deutlich.
Nora Crossey, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
Referenzen
Landesregierung des Saarlandes. (2014). Eckpunkte einer Frankreichstrategie für das Saarland. Zugegriffen: 23. April 2019.
„Bouillon verteidigt Grenzschließungen“ (6. April 2020). Saarländischer Rundfunk.
„Saar-SPD: Landtag soll in Krise mehr kontrollieren“ (6. April 2020). Saarbrücker Zeitung.
„Wie Innenminister Bouillon im Saarland an seine Grenzen stößt“ (6. April 2020). Saarbrücker Zeitung.
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Covid-19 überwindet die „nationale“ Grenze (G. Hamez, F. Morel-Doridat, K. Oudina, M. Le Calvez, M. Boquet, N. Dorkel, N. Greiner, S. de Pindray d'Ambelle, Universität Lothringen), 07/04/20
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Text auf Französisch verfügbar.
Grégory Hamez, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Frédérique Morel-Doridat, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Kheira Oudina, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Marine Le Calvez, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Mathias Boquet, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Nicolas Dorkel, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Nicolas Greiner, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
Sabrina de Pindray d'Ambelle, UniGR-Center for Border Studies, Université de Lorraine
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Überlegungen zu einer grenzenlosen Kreatur in einer begrenzten Welt (Rebekka Kanesu, Universität Trier), 06/04/20
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Text auf Englisch verfügbar.
Rebekka Kanesu, UniGR-Center for Border Studies, Universität Trier
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Das Coronavirus und die Erosion von Gewissheiten (Florian Weber, Universität des Saarlandes), 06/04/20
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Am 12. Dezember 2019 wurde in der Volksrepublik China der erste Patient in einem Krankenhaus zur Behandlung eines neuartigen Coronavirus aufgenommen – so zumindest die Rekonstruktion von Wissenschaftler*innen. Gut einen Monat später, am 23. Januar 2020, wurde Wuhan, die Hauptstadt von Hubei, unter Quarantäne gestellt – mit dem Stopp von Ein- und Ausreisemöglichkeiten. Die Etablierung ,harter‘ Grenz(kontroll)en mit In- und Exklusionsmechanismen wird hieran markant deutlich. Doch ebenso zeigt sich, dass in einer globalisierten und beschleunigten Welt das Virus bereits Verbreitung fand. Aus medizinischer Sicht hat die Abriegelung zwar zu einer Verlangsamung der Ausbreitung beigetragen und Ausgangsbeschränkungen haben Wirkungen gezeigt, allerdings ist die Hoffnung auf eine absolute Abschottung eine Illusion. Gleichzeitig haben wir eine Bedrohung (mehr oder weniger aktiv reflektiert) von uns gewiesen, denn zwischenzeitlich erschien die Ausbreitung des Coronavirus weit weg von Europa zu sein – eine Drohkulisse am weit entfernten Horizont, aber gut externalisierbar, ausgegrenzt von der eigenen Lebenswelt. Auch die ,Grenzen im Kopf‘ werden entsprechend an dieser Stelle für Grenzraumforscher*innen relevant, denen wir in der aktuellen Corona-Pandemie, aber auch in anderen Kontexten noch mehr Beachtung schenken sollten.
Scheinbare Gewissheiten und deren Erosion
Mit dem ,Näherkommen‘ des Virus wuchs die Bedrohung, die sich gleichzeitig weiterhin externalisieren ließ: auf Deutschland bezogen erste Fälle in Bayern – etwas unwirklich, aber scheinbar klar zuzuordnen und eindämmbar –, zurückzuführen auf Kontakte eines Unternehmensmitarbeiters mit einer chinesischen Kollegin. Es ist die Grenze zwischen dem Eigenen und Anderen, die Ordnung und damit Gewissheiten bieten kann. Mit der immer massiveren Ausbreitung in Italien (Ausgangsbeschränkungen ab dem 9. März), im Landkreis Heinsberg in Deutschland und der Region Grand Est in Frankreich war allerdings eine Erosion von Gewissheiten verbunden: die Gewissheit, dass uns schon nichts passieren wird. Für mich auf Dienstreise in Grenoble war Corona noch in der zweiten Märzwoche recht weit weg, erhielt aber deutlichere Konturen als ich auf der Rückreise über Paris am 12. März mit einem Dienstreiseverbot der Universität des Saarlandes konfrontiert wurde – ein weitreichender Eingriff in liebgewonnene und unhinterfragte Gewohnheiten. Plötzlich fühlte es sich seltsam an, mit dem ICE durch die Region Grand Est, die am 11. März vom Robert Koch-Institut (RKI) zum Corona-Risikogebiet erklärt worden war, zu fahren. Aus Border Studies-Perspektive sei hierzu bemerkt, dass erst das ,debordering‘ im Zuge der Territorialreform Frankreichs zugunsten einer größeren Region im Jahr 2016 dazu geführt hat, dass das Saarland direkt an ein RKI-definiertes Krisengebiet heranreicht. Dies wäre davor mit der Region Lorraine nicht der Fall gewesen, da der erste COVID-19-Hotspot im Elsass lag.
Massive Umbrüche in Europa – von Grenzkontrollen und Grenzüberschreitungen
Seitdem überschlagen sich die Ereignisse und machen eine tagesaktuelle Einordnung erforderlich, die ihrerseits ganz schnell veraltet – passend zum Sprichwort: ,Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern‘:
- 13. März: Einreisestopp für Europäer*innen in die USA,
- 15. März: Grenzschließung von Polen zu Deutschland mit kilometerlangen Staus,
- 16. März: Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark von Deutschland ausgehend; an diesem Tag ebenfalls der Vorschlag der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, einen EU-Einreisestopp für 30 Tage zu verhängen,
- seit dem 17. März: Ausgangssperre in Frankreich,
- ab dem 19. März: Grenzübertritte u.a. von Frankreich aus in die Bundesrepublik nur noch an bestimmten Grenzübergangsstellen möglich,
- seit dem 22. März: deutliche Verschärfung der Leitlinien vom 12. März zur Beschränkung sozialer Kontakte in Deutschland,
- Aufnahme von italienischen und französischen Patient*innen in deutsche Krankenhäuser,
- 26. März: Forderung nach einer einheitlichen europäischen Reaktion auf die Corona-Krise durch das Europäische Parlament, gleichzeitig Anwachsen einer öffentlich vorgebrachten Kritik an einem unzureichenden Handeln der Europäischen Union,
- wachsende Kritik an Grenzschließungen, die unter anderem im Saarland zu vereinzelten nicht mehr für möglich gehaltenen Animositäten zwischen Deutschen und Franzosen führten,
- 2. April: Veröffentlichung eines YouTube-Videos saarländischer Bürgermeister*innen mit einer Solidaritätsbekundung an ihre französischen Partnergemeinden.
Die hier beispielhaft aufgeführten Ereignisse umfassen gerade einmal einen Zeitraum von drei Wochen. Zwei Auffälligkeiten zeigen sich dabei: zum einen die rasante Beschleunigung der Ereignisse, zum anderen die weiter erodierenden Gewissheiten bei zunehmend einsetzenden Selbstvergewisserungen.
Abb. 1: Grenzschließung eines Grenzübergangs zwischen dem Saarland und Grand Est (Aufnahme Peter Dörrenbächer, April 2020)
,Bordering‘-Prozesse
Die Sicherung der europäischen Außengrenzen und des damit verbundenen Migrationsregimes ist – bei aller Brutalität für ankommende und hilfesuchende Geflüchtete – zu einer gewissen Normalität geworden, die die ,Sicherung Europas‘ vor dem Virus politisch mitunter leicht opportun erscheinen lässt. Neue Migrationsregime von europäischen Nationalstaaten, die nach innen wirken, sind es jedoch nicht mehr: Wir sind es im Schengen-Raum gewohnt, nationalstaatliche Grenzen problemlos zu überqueren – daran erinnern mancherorts noch Relikte wie verwaiste Grenzhäuschen, die eher wie aus der Zeit gefallen wirken. Geradezu paradox ist es, dass 25 Jahre nach Inkrafttreten des Schengener Abkommens in Westeuropa nunmehr genau diese Grenzen kontrolliert bzw. weitgehend geschlossen werden. Diese Entwicklungen lassen sich einerseits als Renationalisierung deuten – mit einem nationalstaatlichen ,rebordering‘, das Sicherheit und die damit verbundenen Maßnahmen nicht zum Schutz der EU, sondern zum eigenen Schutz relevant macht. Dabei ist zu beachten, dass der Infektionsschutz die Aufgabe der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten geblieben ist und die Europäische Kommission lediglich Vorschläge zugunsten abgestimmter Maßnahmen unterbreiten kann. Andererseits treffen nationale und/oder regionale Verfügungen auf Lebenswirklichkeiten ,vor Ort‘, womit sich noch einmal deutlicher offenbart, wie stark grenzüberschreitende Verflechtungen entstanden sind und sich spezifische Borderlands konstituiert haben. Im deutsch-tschechischen Grenzraum geht es etwa für Grenzpendler*innen um existenzielle Fragen etablierter Lebensentwürfe, im saarländisch-lothringischen Grenzraum ergeben sich bei derzeit nur wenigen geöffneten Grenzübergängen für die Pendler*innen längere Anfahrts- bzw. Umwege. Das angeführte Video saarländischer Bürgermeister*innen, aber auch Freundschaftsbekundungen an der Grenze lassen sich als Weckruf für eine deutsch-französische und – noch weitreichender – für eine europäische Solidarität lesen. Grenzübertritte waren zur Selbstverständlichkeit im ,Herzen Europas‘ geworden, so dass vermeintliche Unzulänglichkeiten der Europäischen Union unter anderem von Populist*innen relativ leicht kritisiert werden konnten. Damit stießen sie auf Resonanz, wovon die europakritischen Wahlergebnisse in der letzten Zeit in verschiedenen Ländern zeugen. Jetzt geht es aber um die Grundfeste der europäischen Idee – eine Idee, die wir im UniGR-Center for Border Studies tagtäglich leben und die bei aller voranschreitenden Digitalisierung nicht ersetzbar ist. Die Auswirkungen von COVID-19 mahnen also dahingehend, dass wir offene Binnengrenzen nicht einfach als unumstößlich gegeben ansehen, sondern deren Vorzüge aktiv schätzen und die damit verbundenen Privilegien als eine Errungenschaft herausstellen.
Impulse für die Grenz(raum)forschung
Aus theoretisch-konzeptionell diskurstheoretischer Perspektive fällt auf, wie sehr auch hegemoniale und scheinbar unumstößlich erscheinende Diskurse Verschiebungen unterlegen sein können. Konkret betrifft dies den Diskurs um den Klimawandel, der zwischenzeitlich in viele gesellschaftlichen Felder hineinwirkte und entweder Themenfelder wie die Energiewende nachgeordnet assoziierte oder andere in den Hintergrund drängte. Seit einigen Wochen ist nun COVID-19 quasi omnipräsent – und eben deutlich ,greifbar‘ drohender als der abstrakt erscheinende Klimawandel. Analog dazu wäre zu untersuchen: Wie wandelten und wandeln sich Europa- und Grenz-Diskurse vor dem Hintergrund der so betitelten Corona-Krise? Dislokationen von Diskursen, Subdiskursen und gegenhegemonialen Stimmen werden so auch künftig analytisch und empirisch die Aufmerksamkeit von Forscher*innen verlangen.
Außerdem kehrt in gewisser Weise ein ,starker (National-)Staat‘ zurück, der zwar in Abstimmung, aber doch stark regulierend und reglementierend Leitplanken ,vorgibt‘ – eine Postgovernance. Dabei haben (erfreulicherweise) mitunter Populist*innen schlechte Karten, da sie hier keine ,Sicherheit‘ bieten können. Netzwerkartige bottom up-Initiativen – beispielsweise in Form von nachbarschaftlicher Einkaufshilfe und damit verbundener Solidarität – entstehen, allerdings eher flankierend zu Handeln top down. Fragen politischer Steuerung sind damit ein weiteres Feld, das im Spiegel der Pandemie neue Forschungsperspektiven eröffnet. Dies gilt in besonderer Weise für den grenzüberschreitenden Kontext, in dem es lohnenswert erscheint, ,multi-level governance‘ und ,cross border-governance‘ (allgemeiner die Border Studies) zusammenzudenken und zu verschneiden.
Die analytische Einteilung der Welt in Ebenen und Skalen lässt sich ,grenzbezogen‘ letztlich auch auf die individuelle Ebene beziehen: Welche Auswirkungen entfalten Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen, welche sichtbaren und unsichtbaren Grenzen gehen damit einher? Welche Ängste vor ,dem Fremden‘ bzw. ,den Fremden‘ haben hier mitunter Einzug in das direkte Lebensumfeld erhalten? Mit der Digitalisierung, die privat und beruflich derzeit beschleunigt voranschreitet, können wiederum auch neue Grenzziehungen einhergehen: etwa zwischen den digital Ausgeschlossenen, solchen mit begrenzten Kenntnissen und Erfahrungen und jenen, die als ,digital natives‘ spielend das World Wide Web für ihre Zwecke nutzen. Diese Grenzziehung kann auch als ,digitaler Graben‘ umschrieben werden – eine (linienhafte) Metapher der 1990er Jahre, die nun wiederbelebt werden kann und ein durchaus noch weiterreichendes Feld als hier umrissen adressiert.
Um metaphorisch zu schließen: Mitten im Sturm zu stehen, kann ohne Weiteres die Sicht verstellen. Was rückt aus welchen Gründen derzeit in den Fokus unserer Aufmerksamkeit? Was vernachlässigen wir? Christian Wille hat in seinem Beitrag auf BorderObs bereits auf eine mögliche ,humanitäre Katastrophe‘ an der türkisch-griechischen Grenze und damit auf die EU-Außengrenze hingewiesen, die zwischenzeitlich aus dem medialen Fokus gerückt war. Wenig Beachtung finden derzeit außerdem benachteiligte ,cités‘ (Großwohnsiedlungen) in den französischen ,banlieues‘: Das Problem eines ,enfermement‘ (ein Abgeschlossen-sein und Ausgegrenzt-sein) mancher Siedlungen wird nun durch die Ausgangssperre verstärkt, da die Wohn- und Lebensverhältnisse keine hinreichenden Rückzugsräume bieten.
Ein gewisser Abstand zu den angeführten Thematiken, den wir als Bürger*innen und zugleich als Grenzforscher*innen aktuell kaum haben, ist forschungsbezogen eigentlich hilfreich. Gleichzeitig sollten wir den Themenkomplex ,Grenzen und COVID-19‘ direkt aktiv angehen, so dass die Beiträge in BorderObs sogar nach und nach eine Systematisierung des noch recht nebligen Forschungsfeldes ermöglichen können. Dies gilt auf theoretisch-konzeptioneller und empirischer, aber auch auf praktisch-engagierter Seite.
Florian Weber, UniGR-Center for Border Studies, Universität des Saarlandes
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Grenzen in Zeiten von Covid-19 (Christian Wille, Universität Luxemburg), 03/04/20
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Territoriale Grenzen und soziale Grenzziehungsprozesse gewinnen im Zuge der Covid-19-Pandemie eine zum Teil dramatische Relevanz. Ein prägnantes Beispiel dafür ist das 25. Jubiläum des Inkrafttretens der Schengener Abkommen am 26. März 2020, das mit der Verstärkung von Grenzkontrollen bzw. Schließungen der EU-Binnengrenzen zusammenfällt. Die von der EU-Kommission zum 16. März 2020 aufgestellten „Richtlinien zu Maßnahmen des Grenzmanagements zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von Waren und notwendigen Dienstleistungen“ sorgen derzeit dafür, dass trotz einsetzender re/bordering-Prozesse die Grenzen durchlässig bleiben für den Warenverkehr, Grenzgänger*innen und für eigene Landsleute.
Diese Korridore bleiben allerdings verschlossen für Schutzsuchende, also für ‚Ausländer*innen‘, und die Nationalstaaten konzentrieren sich auf die eigenen Interessen. Auch bei der Beschaffung von medizinischem Material scheint nationaler Protektionismus und Egoismus zunächst leitend zu sein, wenn etwa Exportverbote ausgesprochen oder Schutzmasken beschlagnahmt werden. Solche Renationalisierungsprozesse – oder besser gesagt: nationalen Selbstbeschäftigungen – führen auch dazu, dass sich keine Regierung mehr einsetzt für die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Sie verharren in Camps auf den griechischen Inseln, an der türkisch-griechischen Grenze und anderswo in beengten Verhältnissen, gravierenden hygienischen Bedingungen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis dort eine humanitäre Katastrophe ausbricht.
Gleichzeitig ist eine gewisse Solidarität zwischen den EU-Ländern zu beobachten, die erst Ende März langsam Fahrt aufzunehmen scheint. Dazu zählt nicht nur das immer stärker artikulierte Anliegen, sowohl bei der Eindämmungs- als auch der Exit-Strategie abgestimmt vorzugehen. Auch die zunehmende Aufnahme von schwerkranken Infizierten aus Nachbarländern oder der Versand von medizinischem Material in besonders betroffene Gebiete im Ausland zeugen davon. Die EU-Kommission versäumt es dabei nicht, mit ihren PR-Werkzeugen die Vorteile des Zusammenschlusses der europäischen Staaten herauszustreichen: etwa in Bezug auf das konzertierte #FlattenTheCurve, die koordinierten Rückholaktionen per Charterflüge, die Bereitstellung von Hilfspaketen oder die gemeinsame Beschaffung von medizinischer Ausrüstung. Birgt die Coronakrise mit ihren Abschottungsreflexen einerseits und ihrer sogenannten #EUSolidarity andererseits eine Chance zur Wiederbelebung Europas?
Soziale Grenzziehungen
Soziale Grenzziehungen werden in der aktuellen Situation als Kategorisierungen relevant gemacht, und das zum Teil in dramatischer Weise. Angesprochen sind damit Unterscheidung in systemrelevante Arbeitskräfte einerseits, welche über neue Formen der kollektiven Solidarbekundung oft als ‚Held*innen des Alltags‘ gefeiert werden. Und die weniger systemrelevanten Arbeitskräfte andererseits, die à la #SocialDistancing im vermeintlich sicheren Home-Office arbeiten. Diese Unterscheidung, die auch eine Ordnung der Privilegierten und weniger Privilegierten widerspiegelt, verweist weiter auf Fragen der (Un)gleichheit: Inwiefern sind wir im Angesicht der Viruserkrankung (un)gleich und warum stellen sich die weniger Privilegierten nun weitgehend als systemrelevant heraus?
Daneben ist die Vulnerabilität von Menschen – zumeist gemessen am Alter und an Vorerkrankungen – ein weiteres Kriterium für zu beobachtende b/ordering-Prozesse: Personen werden in Risikogruppen eingeteilt und damit als besonders schützenswert bzw. weniger schützenswert, was sich allerdings als nicht verlässlich erweist. Denn auch bei jungen Menschen kann die Infektionskrankheit einen schweren Verlauf nehmen. Weiter werden soziale Grenzziehungen mit zum Teil tödlicher Finalität vorgenommen, die der fortlaufenden Pandemie und wachsenden Überlastung der Gesundheitssysteme geschuldet sind. So müssen Ärzt*innen entscheiden, wer ambulant und wer stationär behandelt wird oder wer beatmet wird und wer nicht (mehr). Solche eingesetzten Ordnungen, die für Grenzen zwischen Leben und Tod stehen (können), rufen ethische Fragen auf den Plan.
Außerdem sind Kategorisierungen kritisch im Blick zu behalten, die ‚das Fremde‘ als Bedrohung oder Ursache der Viruserkrankung projizieren (othering). So wurden schon einige Wochen vor den einschneidenden Schutzmaßnahmen chinesische Restaurants gemieden, von einem „chinesischen Virus“ (D. Trump) gesprochen oder das mexikanische Bier „Corona Extra“ stehen gelassen. Solche Beobachtungen mögen zunächst nachrangig erscheinen, aber es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit bis rechtspopulistischen Kräfte ähnliche Kategorien des konstitutiven Anderen mobilisieren und für ihre Interessen in Stellung bringen.
(Dis)Kontinuitäten in Grenzregionen
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben die Wirtschaft lahmgelegt und werden gravierende Auswirkungen zeigen für Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Nach den ersten Einbrüchen an den Börsen haben Betriebe ihre Produktion zurückgefahren, öffentliche Einrichtungen auf Notbetrieb umgestellt und Arbeitskräfte wurden angehalten sich im Home-Office gesund zu halten, um jene zu ersetzen, die sich an vorderster Front arbeitend infizieren könnten. Das soziökonomische Ecosystem ist aus der Spur geraten und der Virus fördert seine Fragilität(en) zu Tage. Das wird besonders in Grenzregionen deutlich, die durch Grenzschließung oder -verstärkungen nun mehr oder weniger abgeschnitten sind von ihren Nachbarn. So leidet zum Beispiel das deutsche Bundesland Brandenburg enorm unter der Schließung der deutsch-polnischen Grenze, die sich sofort mit Pkw- und Lkw-Staus von 15 bis 20 Stunden, entsprechenden Lieferverzögerungen und Schwierigkeiten für Pendler*innen niederschlug.
Mit einer speziellen Bescheinigung können Grenzgänger*innen die Grenzkorridore nutzen, wobei für jene, die im Home-Office arbeiten, fiskalische Probleme entstehen: Ab einer bestimmten Anzahl an Tagen, die im Wohnland gearbeitet wird, wird die Arbeitsleistung nach den Regeln des Wohnlands besteuert und die Abgabe auch dort abgeführt. Dieses Problem, das für Grenzgänger*innen etwa in Luxemburg auch in virusfreien Zeiten problematisch ist, wurde rasch gelöst: Belgien, Frankreich (und bald auch Deutschland) haben Luxemburg versichert, dass diese Besteuerungsregel während der Pandemie nicht greifen soll.
Abb. 1: Luxemburg-Stadt während der Covid-19-Pandemie (Aufnahme: Christian Wille, April 2020)
Dafür hat sich die luxemburgische Regierung eingesetzt, denn aktuell ist die Abhängigkeit Luxemburgs von seinen Nachbarländern so deutlich wie noch nie zuvor: Ca. 70% der Arbeitskräfte im Gesundheitssektor sind Grenzgänger*innen (überwiegend aus Frankreich), deren Wegbleiben verhängnisvoll wäre – sie sind systemrelevant im wahrsten Sinne des Wortes. Es erstaunt daher nicht, dass der luxemburgische Premierminister sich bei den Grenzgänger*innen persönlich bedankt für ihre Arbeit im Großherzogtum und seinen Landsleuten versichert, er wisse von oberster Stelle, dass die Grenze zu Frankreich für Grenzgänger*innen passierbar bleibe. Auch in der Schweiz werden solche Abhängigkeiten virulent, weshalb Grenzgänger*innen weiterhin in die Alpenrepublik gelassen und – wie auch in Luxemburg – Überlegungen geführt werden, ob Grenzgänger*innen (mit ihren Familien) während der Pandemie am Arbeitsort in Hotels untergebracht werden können.
Die Pandemie macht in Grenzregionen sicher mehr als anderswo deutlich, inwiefern in der gegenwärtigen Krisensituation – aber auch danach – ein gemeinsames Handeln notwendig ist. Aktuelle Initiativen dieser Art sind die gegenseitige Unterstützung in der Krankenversorgung, wie etwa die Aufnahme von schwerkranken Infizierten aus Grand Est in Baden-Württemberg, dem Saarland, Rheinland-Pfalz oder Luxemburg. Oder die Einrichtung der „Cross-Border Task Force Corona“ zwischen Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden und Belgien für ein abgestimmtes Vorgehen bei der Eindämmung von Covid-19 im Grenzgebiet.
Post-Corona
Es ist zu erwarten, dass sich Europa und die Gesellschaften weltweit durch die Viruskrankheit und die durchlebten drastischen Maßnahmen verändern werden. Darauf deutet bereits die gegenwärtige Rhetorik hin, die mit „Krise“ operiert, was etymologisch nichts Anderes als „entscheidende Wendung“ bedeutet. Allerdings ist noch nicht absehbar, wohin eine solche Wendung weisen wird. Wird die Erfahrung der Pandemie das Bewusstsein für eine entfesselte Globalisierung schärfen und künftig mehr Regeln oder Überwachung und Kontrolle einfordern? Wird das geteilte Moment der Krise und der (grenzüberschreitenden) Solidarität die EU-Länder und Grenzregionen wieder bzw. noch näher zusammenbringen? Oder werden Nationalismen weiter aufkeimen und fortgeschriebene Renationalisierungsprozesse den Post-Coronalismus kennzeichnen?
Damit im Zusammenhang steht auch die Frage nach der Zukunft des schon während der sogenannten Migrationskrise angeschlagenen Schengen-Raums. Anlässlich seines Jubiläums wies der luxemburgische Außenminister, Jean Asselborn, dafür eine Richtung: „Die Regeln des Schengen-Raums bilden den Rahmen für eine Zusammenarbeit, die es uns ermöglicht, gemeinsam die beispiellose Herausforderung dieser Pandemie zu bewältigen. Deshalb fordere ich, dass die im Schengenregime festgelegten Freiheiten so schnell wie möglich wieder etabliert werden. Die Wiedereinführung von Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zwischen bestimmten Ländern kann nur eine einmalige und vorübergehende Maßnahme sein und muss in Übereinstimmung mit den Verträgen durchgeführt werden.“
Christian Wille, UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg